1) Längerer persönlicher Text / Essay (erste Person)
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, wer ich wirklich bin — beinahe 37 Jahre. In dieser Zeit habe ich versucht, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen, die mir offenstanden. Ich habe Spanisch gelernt, Seminare besucht und mich in Situationen begeben, in denen ich mit anderen Menschen in einem ruhigen Raum saß und über Sprache und Kultur sprach. Das war oft eine Zuflucht: ein warmer, freundlicher Ort in einem kalten Land. Ich habe mich angestrengt, wirklich — aber Spanisch war nie ganz mein Heimatengefühl. Es war eine Notlösung, weil Kurdisch mir nicht als Option angeboten wurde.
Ich wollte offen bleiben, experimentieren, Neues ausprobieren. Ich war unsicher, ob ich Kurdin oder Türkin sei oder etwas dazwischen; innerlich wusste ich schon, wo meine Wurzeln lagen — aber die Erziehung, das Umfeld und die institutionellen Strukturen machten es mir schwer, das klar auszusprechen. In der Uni bin ich öfter auf Ablehnung gestoßen: Ich hatte Seminare, wurde aus Praktikumsplätzen herausgedrängt und bekam manchmal die Frage „Was haben Sie hier noch verloren?“, ohne Erklärung — mitten im Seminar, vor anderen. Das hat wehgetan. Es fühlte sich an wie eine stille Aufforderung, mich zu „rechtfertigen“ oder zu verschwinden.
Kurz vor dem Bachelor ist mir vieles entglitten. Prüfungen schiefgelaufen, Chancen verpasst — am Ende fehlten mir nur noch wenige Credits. Das hat mich hart getroffen. Ich frage mich oft, ob man mir nicht einfach klares Feedback hätte geben sollen: „Wäre Kurdisch nicht der richtige Weg für Sie?“ Stattdessen blieb vieles unausgesprochen, und ich saß da, verwirrt und verletzt.
Heute ist das anders. Mit 37 ist ein Widerstand in mir gewachsen. Ich fordere nicht mehr nur für mich, ich fordere für die Sprache. Ich will Kurdisch lernen und Kurdisch unterrichten — nicht weil ich damit Ruhm oder Aufmerksamkeit suche, sondern weil Sprache Identität und Würde trägt. Institutionen und Systeme haben mir in der Vergangenheit nicht geholfen; sie haben oft eher verschoben und unsichtbar gemacht. Aber allein werde ich es nicht schaffen. Ich suche Räume, Verbündete, Lehrer:innen, Kurse, Strukturen — und die Entschlossenheit, meine Sprache weiterzugeben.
Dieses Jahr habe ich begriffen: Es geht nicht um Schuldzuweisungen allein. Es geht darum, die Verantwortung zu sehen und anzunehmen. Ich möchte nicht mehr verwirrt in Seminaren sitzen und fragen, ob ich dazugehöre. Ich möchte handeln — lernen, lehren, sichtbar werden.
Ich will nicht, dass diese Strukturen mir sagen, ich sei nicht gut genug, um eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Mein Umfeld hat mir oft nahegelegt, etwas völlig anderes zu machen – in die Industrie zu gehen, „praktisch anzupacken“. Aber es war nie ein konstruktiver Vorschlag wie etwa: „Studier doch Ingenieurwissenschaften“ oder „Such dir ein Fach, das dich herausfordert.“ Es war eher ein Ausweichen, ein Abwenden von meinen eigentlichen Interessen.
So blieb ich in der Schwebe. Einerseits trug ich in mir das Bedürfnis nach Studium, Sprache, geistiger Arbeit. Andererseits wurde mir vermittelt, dass es besser sei, einfach nur „irgendetwas“ zu machen. Und bis heute spüre ich diese Verwirrung: Man nimmt mich nicht so wahr, wie ich bin. Man spricht mich immer noch mit „Herr Nachname“ an – als wüsste niemand, wo ich wirklich stehe.