Europa und die Staatenlosigkeit der Kurden – eine notwendige Klarstellung
In den letzten Tagen kursieren Beiträge, die behaupten, Europa habe tausende kurdische Familien zerstört und in die Migration gezwungen. Solche Aussagen sind verkürzt und greifen zu kurz.
1. Staatenlosigkeit als Kernproblem
Das zentrale Problem der Kurden ist nicht allein Europa, sondern die Staatenlosigkeit. Ohne eigenen Staat sind die Kurden abhängig, fremdbestimmt und ein dauerhafter Spielball anderer Mächte. Mit einem eigenen Land gäbe es solche einseitigen Schuldzuweisungen gar nicht.
2. Europa ist vielfältig
Die Kritik, die ausschließlich auf Europa gerichtet wird, ist künstlich verengt. Es leben Kurden nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, in Italien, in Schweden, in Frankreich und vielen weiteren Ländern. Warum wird diese Realität verschwiegen?
Besonders auffällig: In der Schweiz leben sehr viele Kurden, doch dort wird kaum kritisiert – obwohl die schweizerische Identität selbst ein Produkt der Verschmelzung von Deutschen und Italienern ist. Warum lenkt man die Aufmerksamkeit nur auf ein Land, statt die gesamte europäische Dimension zu betrachten?
3. Fremde Mächte vs. Eigenverantwortung
Es ist zu einfach, die Verantwortung allein bei fremden Mächten zu suchen. Viele Kurden sind bewusst ausgewandert oder haben sich für ein Leben in Europa entschieden. Migration ist nicht immer nur Zwang, sondern auch eine Folge eigener Entscheidungen.
4. Die Türkei wird ausgeblendet
Schwerer wiegt, dass die Rolle der Türkei fast nie erwähnt wird. Sie ist der größte Blockierer kurdischer Eigenständigkeit und nutzt die Staatenlosigkeit der Kurden am schamlosesten aus. Wer Europa einseitig verantwortlich macht, verzerrt die Wirklichkeit und verschweigt den zentralen Akteur.
5. Unterschiedliche Perspektiven
Es fällt auf, dass viele dieser Aussagen aus Medien im Nahen Osten stammen. Die Perspektive dort unterscheidet sich oft stark von der in der Diaspora. Kurden in Europa oder Amerika erleben die Realität anders und würden häufig differenzierter argumentieren.
6. Mehr als nur zwei Seiten
Ein weiteres Problem vieler Darstellungen ist das Denken in Gegensätzen: Europa gegen die Kurden, Türkei gegen die Kurden. Doch so einfach ist es nicht.
Die politische Realität ist geprägt von Triaden und multiplen Parteien:
Europa in seiner Gesamtheit,
die Türkei,
regionale kurdische Autoritäten gelenkt von arabischen Mächten (z. B. im Irak),
internationale Mächte wie die USA oder Russland,
dazu wirtschaftliche und kulturelle Interessen.
Es geht nie nur um zwei Seiten. Wer die Lage auf ein Schwarz-Weiß-Schema reduziert, verkennt die Vielschichtigkeit des Problems und verhindert ein tieferes Verständnis.
7. Institutionen und die stille Gewalt
Es ist zu kurz gedacht, die Verantwortung nur einzelnen Staaten zuzuschieben. In Wahrheit sind es oft die großen Institutionen dieser Welt – Krankenhäuser, Schulen, NGOs, internationale Organisationen oder auch Behörden –, die das Leben von Menschen entscheidend prägen. Sie treten nach außen als neutrale Helfer auf, doch in ihrem Inneren wirken standardisierte Strukturen, die alles gleichmachen wollen.
Alles, was nicht in ihre Raster passt – seien es Minderheitensprachen, kulturelle Eigenheiten oder individuelle Lebensweisen – wird verdrängt oder unsichtbar gemacht. So entsteht eine Form von stiller Gewalt: keine offene Unterdrückung, sondern ein leises Auslöschen. Diese „Feinde, die leise töten“ sind gefährlich, weil man sie schwer benennen kann. Es ist keine sichtbare Gewalt, sondern eine unsichtbare, die über Akten, Regeln und Abläufe wirkt.
Für die Kurden bedeutet das: Nicht nur Staaten blockieren ihre Eigenständigkeit, sondern auch globale und lokale Institutionen tragen dazu bei, dass kurdische Sprache und Identität systematisch marginalisiert werden.
Fazit
Europa allein verantwortlich zu machen, ist nicht nur verkürzt, sondern auch eine Ablenkung vom eigentlichen Kern des Problems. Mehrere Mächte tragen Verantwortung – allen voran die Türkei. Doch das wahre Problem bleibt die Staatenlosigkeit der Kurden. Ohne einen eigenen Staat werden Kurden weiterhin verschoben, instrumentalisiert und abhängig gehalten.