Rache als Spiegel – Teil 1: Der Wind von Botan
In Botan sagt man: “Hêwa li ser serê xwe veger e.”
Der Wind kehrt immer zu seinem Ursprung zurück.
Niemand glaubte an solche Sprüche — bis Zîn und Berfîn einander begegneten.
Sie wohnten in zwei alten Häusern aus Lehm und Stein, nur getrennt durch eine Mauer, die so dünn war, dass man nachts das Atmen des anderen hören konnte.
Zîn war allein. Ihr Mann war im Krieg verschwunden, und sie sprach selten über ihn.
Berfîn dagegen hatte Familie, aber sie lebten weit fort — ihr Neffe Şervan kam ab und zu aus der Stadt, um ihr zu helfen.
Wenn Zîn Wasser auf ihre Erde goss, blieb sie trocken.
Wenn Berfîn ihre Rosen goss, duftete das ganze Tal.
Und jedes Mal, wenn der Wind den Duft herübertrug, spürte Zîn etwas in sich brennen — nicht Hass, sondern dieser leise Schmerz, den das Leben denen schenkt, die zu lange gehofft haben.
Eines Morgens fand sie vor ihrer Tür einen Umschlag.
Kein Absender, nur ihr Name: Zîn Xelef.
Darin ein altes Foto: ihr Vater, jung, an einem Brunnen, und neben ihm — Berfîn, als Kind.
Auf der Rückseite stand: „Dein Vater hat uns einst das Leben gerettet.“
Sie fühlte, wie ihre Hände zitterten.
Sie erinnerte sich an Geschichten, die nie zu Ende erzählt worden waren.
Warum hatte Berfîn ihr nie davon erzählt?
Warum dieses Schweigen?
So begann etwas in ihr zu gären.
Am nächsten Markttag sprach sie mit den Frauen beim Brunnen.
Sie lächelte, aber in ihren Worten lag ein Stachel:
„Habt ihr gehört? Berfîns Mann war gar kein Held. Er ist fortgelaufen. Man sagt, er lebt noch – irgendwo in Duhok.“
Das Wasser im Brunnen schwieg, aber die Worte fanden ihren Weg.
Wochen später bemerkte Zîn, dass Berfîn sie nicht mehr ansah.
Nur Şervan kam noch, brachte Datteln, Wasser, und grüßte höflich.
Er war jung, gebildet, mit der Ruhe eines Menschen, der zu viel gesehen hat.
Einmal sagte er:
„Tante Zîn, du hast einen Garten, der nach Staub riecht, und trotzdem bleibst du hier. Warum?“
Sie antwortete:
„Weil Staub ehrlicher ist als die Menschen.“
Er schwieg, aber seine Augen sagten mehr als Worte.
Dann kam der Herbst.
Der Wind wurde schärfer, die Nächte länger.
Zîn hörte, wie Berfîn abends leise sang — ein altes kurdisches Lied über Verlust und Rückkehr.
Sie wollte schreien: „Schweig!“, aber der Klang traf ihr Herz.
Er klang wie ihr eigenes Leben.
Eines Abends, als der Mond halb über dem Tal stand, kam Şervan an ihre Tür.
Er hielt eine alte Metallkiste.
„Das hat meine Tante dir hinterlassen“, sagte er.
Zîn öffnete sie — darin Briefe, vergilbt, manche von ihrem Vater, manche an ihn.
In einem stand:
„Möge mein Sohn wissen, dass man die Erde nicht mit Hass fruchtbar macht.“
Da wusste sie, dass sie alles falsch verstanden hatte.
Die Rache hatte sie selbst vergiftet, nicht Berfîn.
Am nächsten Morgen stand sie an der Mauer, legte ihre Hand darauf und flüsterte:
„Berfîn, ez li te dixwazim biborî… Ich will, dass du mir vergibst.“
Nur der Wind antwortete.
Aber er klang diesmal weicher — fast wie eine Antwort.