Corona
Mein persönliches Leben hat sich durch die Corona-Situation eher subtil verändert. Meine Zeit verbringe ich deutlich weniger alleine und deutlich mehr mit Freunden. Fast vollkommen weggefallen ist die Zeit mit fremden Menschen.
Meine neue Mitbewohnerin ist vor drei Wochen frühzeitig aus ihrem Praktikum zurückgekehrt und hat mich und Mattis dazu angeregt, einige Dinge in der Wohnung in Ordnung zu bringen. Julia ist so oft bei uns, dass sie quasi eingezogen ist, und gemeinsam mit Kevin, Micha, Moritz, Nils und Louisa leben wir ein bisschen wie in einer erweiterten WG.
Ich esse deutlich mehr als vorher, vielleicht weil wir alle das Bedürfnis haben, uns zu beweisen, dass die Nahrungsversorgung mehr als sichergestellt ist, vor Allem aber weil gemeinsam Kochen einfach Spaß macht.
Gestern Vormittag waren Julia und Sarah im Wald Bärlauch sammeln um daraus Bärlauchbutter und Bärlauch-Gnocchi zu machen.
Mittags war ich mit Sarah im türkischen Supermarkt einkaufen.
Bei der Werkstatt habe ich dann Micha und Moritz getroffen, ihnen bei einem Video geholfen und Sarah mit Julia alleine gelassen.
Zurück Zuhause habe ich dann eine halbe Stunde konzentriert gearbeitet, mich mit Mattis unterhalten und bin dann wieder zurück hoch zu Julia und Sarah gefahren, um ihnen mit den Gnocchi zu helfen.
Dort habe ich dann den Abend mit den üblichen Verdächtigen verbracht.
Meine Beurteilung der Gesamtsituation schwankt zeitweise stark.
Die erste Nachricht über das neue Virus hatte bei mir ein recht starkes Unbehagen ausgelöst, die anschließende Berichterstattung war mir aber relativ egal. Ende Februar war ich noch auf einer großen Konferenz, Anfang März noch auf einer kleineren Konferenz, Mitte März noch auf einer schönen Party, auf der sich Corona-Bier trinken aber schon sehr falsch anfühlte.
Beruhigt war ich, als klar wurde, dass das Virus vor Allem alte und schwache Menschen um die Ecke bringt, nur sehr selten aber junge Menschen oder Kinder. Kurz dachte ich, das sei ja eigentlich die perfekte Lösung für unser demografisches Problem und erinnerte mich an eine fremde Zivilisation in Star Trek, deren Brauch es war, sich im Alter von 60 Jahren der sogenannten “Resolution” hinzugeben, einem rituellen Selbstmord.
Damals fand ich die Idee gar nicht schlecht. Aber in einer japanischen Erzählung mit gleichem Thema fand ich die Idee vor ein paar Tagen ziemlich dumm. Genauso war mir der Witz über die demografisch positive Wirkung des Virus auch schnell zu viel, als jemand begann den Witz über seine moralischen Grenzen hinaus zu dehnen.
Trotzdem finde ich die Selektivität und relativ geringe Tödlichkeit sehr nett.
Ich glaube, die Situation hat zweierlei Wirkungen:
Einerseits rüttelt sie bestehende Strukturen durch und erzeugt lokal auch Chaos, in dem sich neue Strukturen etablieren können.
Größtenteils werden das Strukturen sein, die besser als die alten funktionieren. Menschen arbeiten dezentral und über das Internet und merken, dass sie dabei sogar produktiver sein können.
An manchen Stellen können diese Strukturen aber auch schlechter sein als die vorherigen. Wenn beispielsweise die Überwachung und die Autorität zunehmen, gewinnt dabei fast niemand etwas.
Genauso kann das Rütteln an den bestehenden Strukturen auch dazu führen, dass gerade die Menschen, die sowieso schon fast den Halt verloren haben, vollkommen abstürzen.
Inzwischen kann ich die Auswirkungen der Situation recht deutlich spüren. Irgendwie hat sich das grundlegende Lebensgefühl geändert. Mein Bedürfnis, meine Tage zu dokumentieren, ist vollkommen eingeschlafen.
Zwischenzeitlich hing in unserer Küche eine Prestige-Wurst, die Mattis' Mutter geschickt hatte. Inzwischen ist sie aufgegessen.
Als Stichprobe aus meinem Alltag der gestrige Tag:
Ich stehe auf, obwohl ich immer noch nicht wirklich Lust auf den Tag habe, frühstücke eine Schale Müsli und verabschiede mich schließlich von Sarah.
Nachdem ich mich im Hof der Werkstatt kurz mit Laura unterhalten habe, fange ich an, die Unterseite der Holmbrücke mit Kohlefaserrovings zu belegen. Während ich noch an der PE-Folie zupfe, die jetzt auf den Rovings liegt, rufe ich meinen Opa an. Er freut sich, ich erzähle ihm im Wesentlichen das Gleiche wie jedes Mal und ärgere mich kurz, dass ich gerade die Rovings verzogen habe. Ich ziehe die Folie wieder ab, ziehe mir wieder Handschuhe an und lege die Rovings wieder gerade während ich meinem Opa erkläre, was ich gerade tue. Ich verspreche, ihm Fotos zu schicken, wenn ich fertig bin. Währenddessen kommt Sarah an und unterhält sich mit Laura.
Ich beende das Gespräch und die Arbeit, baue den Akku in mein Modellflugzeug und gehe in den Hof.
Ich laufe mit Sarah auf die Mathildenhöhe und teste den Südosthang, der starke Ostwind ist mir aber zu unangenehm. Sarah muss Bilder von Druckrastern im öffentlichen Raum machen. Wir laufen auf die Rosenhöhe, hinter deren östlichem Ausgang auf dem Feld tummeln sich etliche Menschen. Ich werfe trotzdem mein Flugzeug gegen den Wind den Hang hinunter und bin zufrieden mit der freien Fläche und dem Aufwind, schaffe es aber nicht, exakt auf dem Feldweg zu landen und muss in das Weizenfeld laufen. Ein weiterer Wurf, eine bessere Landung, noch ein Wurf, ein wenig Kunstflug und eine Landung auf dem anderen Feld vor einer Reihe Lauch.
Noch ein Wurf und eine gekonnt wirkende Handlandung. Ich bin zufrieden, wir gehen weiter.
Ein kleiner Bierkauf beim Laden des Hofguts Oberfeld und ein großzügiger Rückweg am Rande des Woog, ein kleiner Abstecher im Vortex-Garten und noch ein paar Flüge am jetzt ruhigeren Südwesthang. Die machen richtig Spaß, wir rauchen eine Zigarette und machen uns schließlich auf den Rückweg zur Werkstatt. Dort sitzen inzwischen zehn Freunde im Garten, Julia kocht für alle und wir betrinken uns gemeinsam in ihrer Wohnung bis morgens um 4.
Fazit: 1 Stunde Arbeit, 2 Stunden Spaziergang, 8 Stunden Party
So ungefähr sieht momentan fast jeder meiner Tage aus.
Heute beispielsweise:
4 h Frühstück, Yoga und Fahrradreparatur, 3 h Besuch in Dieburg, um Werkzeug zurückzubringen und Bier und Lasagne zu schnorren, 2 h Duschen und Chillen.
Der Rest des Abends ist großzügigerweise frei zu meiner Verfügung.
Sonntag, 26.04.2020
Samstag, 02.05.2020
Nils Geburtstag
Sarah weckt mich für den Aufbruch zum Brunch.