Endlich unendlich.

Seltsam, wenn man durch seine Hand das nasse Laub am Boden sah, dachte er. Das Schimmern seiner Umrisse war wie ein Wasserfilm, der über unsichtbare Gläser ran. Hinter den durchsichtigen Konturen seines alten Körpers, die er noch erkannte, wirkte alles darunter verschwommen und leicht verwackelt. Die Tropfen des Novemberregens fielen, lautlos durch ihn hindurch. Das gleichmäßige Geräusch auf den roten und gelben Blättern und das leise Rausche der Rinnsale, die sich in den Furchen am Boden sammelten, nahm er wahr. Die Art wie er diese Welt, die er verlassen hatte, erlebte, hatte sich aber verändert. Er sah, er höhrte, er konnte aber nicht sprechen, riechen oder schmecken und da war keine Haut. Er fühlte, nur mehr seinen Herzschmerz, seine Liebe, seine Sehnsucht und seine Gedanken.

Er drehte sich langsam um seine eigene Achse und dachte, „Vielleicht sind es genau diese Gefühle, die mich nicht gehen lassen, ich sollte ...“ Ja, was sollte er eigentlich? Er war gestorben, ein Auto, ein Fußweg und zwei Verkehrsteilnehmer, die sich unglücklicherweise aufeinander verließen. Sein letzter Gedanke, bevor ihn das Fahrzeug traf, war, „Er wir doch anhalten ich steh ja schon am Zebrastreifen.“ Tat er nicht, das Anhalten, und der Autofahrer war geschockt, den er dachte, „Der sieht doch da ich zu schnell zum Bremsen bin, der wird doch nicht...“

Als die schemenhafte Gestalt die Drehung vollendet hatte, sah Sie die Landstraße den Fußgängerübergang, den eine trübe gelben Lampe beleuchtete. Er konnte sich an einen Ort versetzen, nur indem er daran dachte. Jedoch bei seinem Zuhause klappte es nicht. Der Ort, den er am besten kannte, dort wo er viele Jahre glücklich gewesen war, den erreichte er nicht. Wenn er an sein Heim dachte, blieb er in einem Nebel stecken, der die Gefühle und die Gedanken an sein Zuhause und seine Frau verschlang und diffus und unklar machten. Am anderen Ende des markierten Übergangs standen Grablichter, die unruhig flackerten, und verwelkte Blumen und Fotos, die sich in der feuchten Luft langsam auflösten.

Er schwebte über die Straße auf die gegenüberliegende Seite, nicht ohne vorher links und rechts zu schauen. Zu spät, um den Unfall ungeschehen zu machen. Zu spät – um Tage oder waren es Wochen? Die Zeit verging in seiner neuen Existenz anderes, er erkannte das „Jetzt“, dazwischen lag nichts. Manchmal war es hell, manchmal war es dunkel, wenn ihm das „Jetzt“ bewusst wurde. Er konnte sich an Vergangenes erinnern, an die Augenblicke, wo etwas „geschah“, wo er „etwas tat“, dazwischen war nichts, schwarze Leere, keine Zeit und kein Raum. Er sah auf die Aufnahme, die gegen die Nässe in Plastikhüllen steckten hinunter, da war ein neues. Er und seine geliebte Frau. Eines der Fotos, das sie in der ersten Woche Ihres Zusammenkommens aufgenommen hatten. Sie sahen beide so glücklich aus. Ein starker Schmerz zog an ihm und er versuchte, an das Haus mit Garten, ihrer beider Zuhause zu denken.

Die Sonne ließ die weiße Farbe des Zebrastreifens auf dem Asphalt noch heller leuchten. Die Autos fuhren durch ihn hindurch und er spürte nichts. Er stand oder schwebte, so genau empfand er das nicht mehr, über dem Fußgängerübergang. Auf der anderen Seite stand eine Frau in Schwarz gehüllt. Neben Ihr war eine zweite Frau, die Sie am Arm hielt. Er hätte die gebeugte Person jederzeit wiedererkannt. Es war seine geliebte Ehefrau und seine Stieftochter. Sie legten ein paar Blumen zu den Kerzen und platzierten eine neue Kerze, die sie entzündeten. Er hörte nicht, was Sie sprachen, und er hatte Angst sich zu nähern. Sie zu erschrecken oder schlimmer zu realisieren, dass Sie ihn nicht wahrnehmen. So wartete er. Die Schulter seiner Gattin bebten und ihre Tochter reichte Ihr ein Taschentuch. Dann drehten sich die beiden um und gingen über den Zebrastreifen geradewegs auf ihn zu. Er versuchte sich wegdenken, fort irgendwohin, aber es klappte nicht und er sah das Gesicht seiner geliebten Frau näher kommen. Dunkle Ringen unter Ihren verweinten Augen. Um ihren sonst lächelnden Mund hatten sich Falten eingegraben. Sie starrte mit schmerzvollen, verzweifelten Blick ins Leere, durch ihn hindurch. Seine Stieftochter redete auf Ihre Mutter ein, aber er hörte die Worte nicht. Er spürte nur die Sorge, im Klang Ihrer Stimme und dann waren Sie beide bei ihm. Sie tauchten durch ihn hindurch, wie durch einen Lichtstrahl oder eine Nebelschwade. Nichts hinderte sie am Weitergehen und obwohl er erwartet hatte, etwas zu spüren, wurde er enttäuscht. Da war kein warmes Gefühl keine freudige Erregung, nichts. Für einen Augenblick war er seiner Geliebten ganz nahe und in ihren Augen sah er, Schmerz, unendliche Traurigkeit und das Fehlen des Lebenswillens. Ihm wurde bewusst, dass er sich unendlich quälte. Selbst, wenn er lange an der Seite seiner Geliebten verbrachte, würde er nur ihren Schmerz spüren. Er würde immer wieder erleben, wie sie mit dem Verlust kämpfte, aber er würde ihr nicht mehr helfen können – nicht in ihrem Leben, nicht hier, nicht in der Form. Und als er diesen Gedanken zu ließ und sein ganzer Leid ihn überwältigte, öffnete sich ein leuchtender Fleck im Grau des Himmels und in einem Sonnenstrahl verging seine Gestalt wie Dunst an einem Frühlingsmorgen.

Seine Frau dreht sich plötzlich kurz um und für eine Sekunde huschte ein Hoffnungsschimmer über Ihr Gesicht. „Was hast Du Mama“, fragte ihre Tochter? „Nichts, ich hab nur für eine Moment gedacht ich kann seinen Duft riechen“, sagt Sie und in Ihrem Herzen war ein kleiner heller Fleck, der sich langsam über die Dunkelheit stülpte.

H.F.Gerl 2022