Grießschmarren und Zwetschgenröster

Das Ticken der alten Standuhr irritierte den Makler. Er war vor einer, oder waren es zwei Wochen, zuletzt hier gewesen. Er wischte den Gedanken daran, wer die Standuhr inzwischen aufgezogen hatte, zur Seite. „Das alte Zeug funktioniert ja oft länger als man glaubt“, beruhigte er sich. Die Altbauwohnung, mit dem Blick auf das Grazer Glacis und die Rückseite des Uhrturms war lange ohne neuen Mieter gewesen. Zu lange für den Geschmack des Maklers. Er legte die Unterlagen und die Schlüssel auf den alten Küchentisch, auf dem sich eine feine Staubschicht gesammelt hatte, die wie ein leuchtender Flaum eines schlafenden Tieres aussah. Die Novembersonne hatte eine breite Lichtbahn vom altmodischen Flügelfenster zur Tischplatte gebaut. Wie Kinder schienen Staubflocken auf der Rutsche aus Licht zum Tisch zu gleiten. Fast meinte er das Lachen und Juchzen von Kinderstimmen zu hören.

Die Hand mit den frisch manikürten Fingernägeln und dem Siegelring strich beinahe liebevoll über die Scharten und Flecken auf dem alten Küchentisch und dabei berührte er den Schlüsselbund, der scheppernd unter den Tisch fiel. Er bückte sich und als er ihn wieder gefunden hatte und sich gerade erhob, fiel sein Blick auf eine kleine Schnitzerei gleich unter der Kante der Tischplatte. Sie war ca. 2 bis 3 cm groß und bestand aus einem groben Herz und zwei Buchstaben, „H + H“. Die Vorbesitzerin der Wohnung war eine alte Dame, er meinte sich zu erinnern, dass sie Helga hieß. Der Makler hatte sie niemals getroffen. Er war von einer Kanzlei, die ein entfernter Verwandter, ein Erbe in Deutschland, mit dem Verkauf beauftragt hatte, kontaktiert worden. Der Verkäufer stand in der Küche und betrachtete die kahlen Bäume vor dem Fenster. In der Stille dieses Nachmittags stieg ihm plötzlich der schwache Geruch von Zwetschgenröster und Grießschmarren in die Nase. Er drehte sich zu dem alten Gasherd, der dort teilnahmslos und kalt stand. Doch der Duft schien nicht wegzugehen.

Hastig öffnete er die Fenster in der Küche und die kalte Luft mit dem Gestank der Autos, die lautstark 4 Stock unter dem Fenster vorbeifuhren überdeckte den Geruch. Der Mann beeilte sich auch in den anderen Zimmern die Fenster zu öffnen. Er hastete über das alte knarrende Parkett des Vorzimmers und betrat das Wohnzimmer durch die Flügeltür mit geätzten Mattglasscheiben. Der Makler war erneut verwundert wie groß und hell doch diese Altbau-Wohnungen waren. Er hatte Appartements in Top Lagen gesehen, von welchen das Wohnzimmer und die Küche bequem in dieses alte Wohnzimmer passten. Der Immobilienmakler verharrte an der Türe und betrachtete den Raum. Dieser war, wie die Küche, von der tief stehenden Sonne erleuchtet. Auf dem alten gepflegten Holzboden zeichneten sich helle Flecken ab. Dort war sicher ein wertvoller alter Perserteppich gelegen, und dort, in der Ecke, war wohl der Esstisch gestanden, was man an den Spuren der Sesselbeine erkannte. Unruhige Besucher hatten es wohl nicht mehr ausgehalten, bis endlich die Nachspeise aufgetragen wurde. Wieder meinte er den feinen Duft von Grießschmarren und Zwetschgenröster wahrzunehmen. Er drehte sich zu den Fenstern, die er schnell öffnen wollte, bevor die Interessenten kamen. Dabei sah er die 3 hellen Punkte, die in einem typischen Dreiecksmuster angeordnet waren. Er erkannte diese sofort. Seine Tante hatte darauf bestanden, dass er Klavierunterricht bei ihr nahm. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte sie ihn zweimal pro Woche damit gequält, Etüden, Sonaten und Suiten. Er hatte die Stunden gehasst, da er lieber Fußball spielen und ein neuer Beckenbauer werden wollte.
Der Klang des Schneewalzers schien plötzlich durch den Raum zu schweben. Im hellen Licht der untergehenden Sonne, meinte er ein altes Paar zu erkennen, das sich wiegend in den Armen hielt und Walzer tanzte und sich glücklich anlächelte, während ein Kind auf dem Flügel spielte.

Der Makler schüttelte unwillig den Kopf und vertrieb die Illusion. Er sah auf seine teure Uhr, 15:30. Die Interessenten müssten schon da sein. Er beeilte sich noch die beiden Fenster zu öffnen. Das Erste ließ sich einfach öffnen das Zweite aber klemmte und erst nach einem heftigen Ruck öffnete sich dieses. Ein alter Fetzen Papier war zwischen Fenster und Rahmen eingeklemmt gewesen. Er hob ihn auf und erkannte, dass es das Fragment eines Briefs war, auf dem klar noch die alte Schrift auf dem vergilbten Papier zu erkennen war. Dort stand in einer sauberen Handschrift. „…be Dich für immer, meine Walzerfee. Dein Heinrich“

Das Klingeln an der Wohnungstür riss ihn aus seinen Gedanken. Heute wollte er diese Wohnung endlich vermieten, nahm er sich vor – zumindest, wenn die Mieter es wert waren hier zu wohnen.

H.F. Gerl 2022

Zwetschgenröster … österreichisches Pflaumenmus mit groben Stücken darin.
Grießschmarrn … ähnlich Polenta (aber süß)
Vorzimmer … Flur (nur größer und länger)
Sessel … Stuhl