hier schreibe ich über meine Leseerfahrungen – irgendwo zwischen Kunst, Soziologie, Philosophie, Politik und Trivialem

Bus126, ENEMY KIDS, BERLIN, 2023

Cover von “Enemy Kids” bearbeitet mit https://simplify.thatsh.it/, 2023

Das kleine Büchlein wurde mir von jemandem empfohlen, der:die den Autor, seit Jahrzehnten kennt und mich mit einigen Hintergründen versorgen konnte, die sich mir als Nicht-Berliner:in und nicht an Graffiti-Interessiert:er ansonsten unter keinen Umständen erschlossen hätten. Offenkundig – die von Zeitzeugenschaft gesegneten, mögen mir meine Unkenntnis verzeihen – handelt es sich bei Bus126 um eine bekannte Persönlichkeit der späten 80er Jahre, die sich bereits in den späten 90er Jahren einen kurzen Moment in der literarischer Berühmtheit sonnen konnte, als eine noch bekanntere Graffiti-Größe Berlins seine Memoiren aufschreiben liess und ihn mit einem Kapitel bedachte. Gut weggekommen sei er zwar nicht, aber darum geht es Bus126 offenkundig nicht. Unbezahlte Rechnungen gibt es nicht, das Vergangene bleibt im Nebel eines Ortes und einer Zeit, die sich fernab jeglichen popkulturellen Interesses nicht weiterentwickelte. Die Westberliner Viertel ausserhalb der Künstler:innen und Kulturschaffendenzone sind bis heute ein realer Ort geblieben, dessen Realität weder Trost noch Zuflucht in Nostalgie findet. Die unbeantwortete Frage des Lektors im Nachwort, was ihn wohl getrieben haben mag, sich derart schonungslos seiner eigenen Geschichte zu stellen, erscheint mir vor allem auf Grund des komplett auserzählten Genres der “coming of age” Geschichte relevant.

Doch um was geht es? ENEMY KIDS ist die Geschichte des Autors und Sprayers aus Berlin, der schon in den 80er Jahren mit dem Künstlernamen Bus126 arbeitete. Das Buch bündelt einige Momente seines Lebens zu extrem konzentierten und ohne Opferpathos erzählten Mikrogeschichten. Die Sprache des Buches ist direkt und schnörkellos. Die einzelnen oft nur ein bis drei Seiten langen Kapitel funktionieren wie brutal gesetzte Schlaglichter, die ein Leben sichtbar machen, das von der Mehrheitsgesellschaft zumeist als schwierig bezeichnet worden wäre. Eine zerrüttete Familie, Gewalt durch die diversen Stiefväter, Drogenkonsum, Schlägereien und die anschließenden endlosen Fluchten durch ein Westberlin vor der Wiedervereinigung, das sind die literaturkritischen Pathologisierungsschubladen, denen sich Bus126 mit dem Furor desjenigen ausliefert, der es offenkundig erfolgreich geschafft hat seine eigene Geschichte und viele seiner Protagonisten zu überleben.

Auch wenn dieses Buch ohne größeren literarischen Geltungsdrang entstanden sein mag, so zeigt es dennoch einen Drang, der das Buch auszeichnet und besonders macht. Es zeigt die Abwesenheit von Privilegien einer Arbeiterklasse Westdeutschlands, deren räumliche Ausdehnungspotenz an den Mauern der damals noch real-existierenden Sozialismus oder der Hoffnungslosigkeit der ererbten Armut zerschellen musste. Um diesen Grenzen zu entgehen bleibt Bus126 nichts anderes übrig als ständig in Bewegung zu bleiben. Im Roman, wird daher die ekstatische Flucht oder die panische Suche zumeist von der Agonie des Schlafes abgewechselt. Die Freude des Zuschlagens geht auf in der Angst vor dem Geschlagenwerden. Am Ende wird Angst und Freude für den Ich-Erzähler zu ein und demselben.

Das Ende der sozialen Marktwirschaft kurz vor der Wiedervereinigung und der Aufstieg des alles verschlingenden Monstrums des Spätkapitalismus sind der ökonomische und systemische Rahmen, in dem sich Bus126 seine blutigen Nasen und zerschlagenen Knöchel holt. Selten habe ich so drastisch über eine vergessene Generation und eine vergessene Zeit gelesen. Fazit: Absolut lesenswert!

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