Fiebertraum und Höhenrausch.
Hans Castorp liebte das Leben im Schnee.
Er fand es demjenigen am Meeresstrand in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des Naturbildes war beiden Sphären gemeinsam; der Schnee, dieser tiefe, lockere Pulverschnee, spielte hier ganz die Rolle wie drunten der gelbweiße Sand;
gleich reinlich waren die Berührungen mit beiden, man schüttelte das frosttrockene Weiß von Schuhen und Kleidern wie drunten das staubfreie Stein-und Muschelpulver des Meeresgrundes, ohne dass eine Spur hinterblieb und auf ganz ähnliche Weise war das Marschieren im Schnee wie eine Dünenwanderung,
es sei denn, dass die Flächen von Sonnenbrand oberflächlich angeschwollen, nachts aber hart gefroren waren, dann ging es sicher leichter und angenehmer darauf als auf Parkett – genau so leicht und angenehm wie auf dem glatten festen, gespühlten und federnden Sandboden am Saume des Meeres.
Der Vergleich zeigt, wie sehr sich Thomas Mann hingezogen fühlte zu dem Strand seiner Kindheit, zu der Ostsee, dem Fischerdorf Travemünde und der Hansestadt Lübeck. Obwohl er später als Emigrant am Pazifik gelebt hat, soll er immer wieder Heimweh nach dem Meer seiner Kindheit gehabt haben.
Das Jahr, in dem der Roman Der Zauberberg 100 Jahren alt wird, neigt sich dem Ende zu.
Ich will mir heute zum feierlichen Abschluss die Ausstellung Fiebertraum und Höhenrausch im St. Annen Museum ansehen.
Fiebertraum und Höhenrausch.
Um zur Ausstellung Thomas Manns Der Zauberberg Fiebertraum und Höhenrausch im St. Annen Museum zu gelangen, fahre ich vom Bahnhof aus mit dem Bus und steige im Fegefeuer aus, ja, richtig gelesen! Denn so lautet der Straßenname, sogar seit 1324, und die Straße führt über den kleinen Umweg Hölle geradewegs ins Paradies, wie das Nordtor der Domkirche genannt wird.
Vom Fegefeuer sind es nur ein paar Schritte bis zum Museum. Die ganze Altstadtinsel hat mit ihren Pflastersteinen und hanseatischen Stufengiebeln etwas Mittelalterliches. Allein die Straßennamen: Pferdemarkt, Beckergrube, Fischergrube und Mühlenstraße. Und das sind nicht nur klangvolle Namen, sondern die engen Gassen und kleinen Einzelhändler, zum Beispiel ein Sattlermeister, der lederne Taschen verkauft, zaubern alte Zeiten herauf.
Das Gebäude, in dem sich die Räume des Museums befinden, hat eine bewegte Geschichte. Zunächst wurde es 1502 als Kloster der Augustinnerinnen gebaut. Allerdings war das nicht von langer Dauer. Die Reformation vertrieb die Nonnen nach ein paar Jahren. Die Stadt erwarb das Gebäude und es wurde zeitweise zum Armenhaus und sogar zum Zuchthaus!
Die Innenräume haben sich seit damals kaum verändert. Ich steige eine steile Steintreppe hinauf und erreiche die Ausstellung. Ausser mir ist niemand dort.
Gleich einer Zeitreise folgt man Hans Castorp´s Innen- und Aussenleben. Der erste Raum ist ganz der Medizin gewidmet. Alte Instrumente und Röntgengeräte, gruselige Kästen und Lungenbilder, lassen ahnen, dass mit Tuberkulose nicht zu scherzen war.
Der “blaue Heinrich”, eine Taschenflasche für Hustende aus Glas mit einem Metallverschluss, war eines der seltsamen Relikte aus der damaligen Zeit. Aber man vertrieb sich die endlose Zeit auf dem Berg auch mit spiritistischen Schreibmedien und Sitzungen.
Mit Hans Castorp vollzieht sich der Wandel mit dem Wandeln. Ein Raum mit einem Grammophon, ein antiker Fotoapparat, Bleistifte! Immer wieder Bleistifte.
“Darf ich mir Deinen Bleistift leihen?” Diese symbolische Szene soll sich zunächst in Lübecks Katharineum, dem Gymnasium, zwischen einem Mitschüler und Hans Castorp alias Thomas Mann ereignet haben. Thomas Mann verarbeitet die Erinnerung im Roman in Hans Castorps Begegnung mit Madame Chauchat an einem rauschenden Karnevalsabend.
So ist dann auch der nächste Raum ein rosarotes Boudoir mit einem Drehbleistift, dem schwarzen Kleid der Dame und Karnevalsaccessoires.
Nachdem aber Madame Chauchat abgereist ist, muss er sich andere Beschäftigung suchen. Und fährt Ski. Dabei verirrt er sich im Gebirge. In einer wandhohen Videoinstallation nimmt das Museum die Besucher mit in die Schneeverwirrungen.
Hans Castorp´s Schneewanderung im Roman “Der Zauberberg” ist ein dramatischer Höhepunkt, da er festzustecken scheint.
Aber er kann sich befreien und kehrt zurück in das Leben im Sanatorium. Und doch wird er ein anderer. Was sehr an dem Einfluss Settembrinis liegt, dem Humanisten, Lehrer und Schriftsteller.
Im Unterschied zu Settembrini, der in einer bescheidenen Studierstube unter dem Dach wohnt und arbeitet, lebt der Jesuit Naphta in seidenen Tapeten und kostbarem Interieur.
Hans Castorp wandelt sich im Diskurs mit den Beiden vom strammen Monarchen zum Humanisten und Demokraten.
Gelesen, gesehen, gehört.
“Der Zauberberg” von Thomas Mann.
Ringvorlesung (Youtube)