Vom Leben am Meer.

Über Zugezogene und Einheimische.

Das (andere) Dorf hatte 300 Einwohner. 99% Katholiken. 1 Protestant. 1 Kommunist, der sich allerdings sehr unwohl gefühlt haben soll.

Im Dorf lebten hauptsächlich Bauern, die ihre Höfe an einem Bach angesiedelt hatten. Eine Straße führte durchs Dorf. Die Hänge waren nicht bebaut. Sie dienten als Äcker und Weiden für das Vieh.

Das Dorf am Rande der Eifel im damaligen Landreis Bonn ist das Dorf, in das ich hinein geboren wurde.

Wenn man der Geschichte glauben darf, war es ursprünglich mal fränkisch und Teil des römischen Reiches.

Belegt ist, dass es Ende des 18. Jahrhunderts französisch war. 1815 wurde es preußisch und 1871 deutsch (Gründung des Nationalstaates).

Lehrer Otto Reifferscheid schrieb im April 1926 in die Schulchronik:

„Die Volksschule zählt bei meinem Antritt 23 Kinder: 10 Mädchen und 13 Buben.

Die Nutzung der Toiletten und Wirtschaftsgebäude beurteilte er als gesetzeswidrig. Selbst in der Lehrerwohnung herrschten solche Zustände. Die Gebäude seien verfallen und unhygienisch. Unrat, Mist und Jauche durchtränkten Böden und Wände und verbreiteten einen unsäglichen Gestank. Ungeziefer, Ratten und Mäuse seien im ganzen Schulbereich verbreitet. Und er dokumentierte  alles gewissenhaft, nicht nur schriftlich sondern auch mit Hilfe von Fotos.

Dieser Lehrer hat eine beeindruckende Bildungsreform in dem kleinen Ort durchgeführt, die in der Chronik nachzulesen ist.

Das änderte sich nach dem zweiten Weltkrieg. Flüchtlinge aus Ostpreußen siedelten sich an und Bonn wurde Bundeshauptstadt.

Das Dorf erlebte einen grundlegenden Wandel.

Zugezogene.

Meine erste Freundin stammte aus einer Diplomatenfamilie. Der Vater war beim Auswärtigen Amt beschäftigt und sie gingen ein paar Jahre später in die USA.

Für die Dorfbewohner war das eine sonderbare Veränderung. Einerseits profitierten sie davon. Die Infrastruktur wurde im Vergleich zu früher fast luxuriös.

Andererseits hatten sie aber auch das Gefühl, nicht mehr Herr ihrer Region zu sein.

Und so sprachen die Dorfbewohner etwas abfällig über die Zugezogenen und die Zugezogenen über die Dörfler.

Heute sind die Hänge zugebaut. Die Bevölkerung ist durchmischt. Es gibt eine evangelische Kirche gegenüber der katholischen Kirche. Im Ort leben 2700 Einwohner.

Einheimisch.

Wann ist man eigentlich (ein-)heimisch? Ich, die ich vor ein paar Jahren an die Küste gezogen bin, erlebe das Gefühl nun auch, Zugezogene zu sein.

Den Großteil meines Lebens habe ich im Köln-Bonner Raum gelebt. Ja, ich bin viel gereist, aber es ist eben doch etwas anderes, irgendwo Urlaub zu machen, als sich tatsächlich einzuleben. Es sind andere Sitten und Gebräuche. Der Rheinländer ist anders als der Norddeutsche.

“Die Vergangenheit ist niemals tot”

zitiert Daniel Schreiber William Faulkner in seinem Essay “Zuhause”.

Das Spannende daran ist, dass er damit die Herkünfte seiner Familie einleitet. Hat die Geschichte, die mein Heimatdorf erlebt hat, die historischen Einflüsse, haben sie etwas mit mir zu tun?

Wie anders ist das Rheinland geprägt als hier der Norden. Preußisch, skandinavisch. Mehrsprachig. Dänisch. Hamburg, das Tor zur Welt.

Und wie wenig deutsch sind wir alle eigentlich. Denn den Nationalstaat gibt es erst seit 1871 und er hat keine besonders rühmliche Geschichte.

Zu seinen Anfängen allerdings war alles sehr bunt. “Der Zauberberg” von Thomas Mann fasst die Internationalität der Welt eindrücklich zusammen.

Stehen wir heute nicht am gleichen Punkt?

Globalisierung und Digitalisierung sind beste Voraussetzung, unsere bunte Welt zu verstehen. Und doch flüchten einige in einen Nationalismus, den Deutschland so eigentlich gar nicht kennt.

Den es eigentlich gar nicht gibt.