Wenden und Grenzen.
Im nächsten Jahr werde ich 60 Jahre alt.
Während frühere runde Geburtstage keine grössere Bedeutung für mich hatten, übt dieser nahende Zeitpunkt eine merkwürdige Wirkung aus.
Es ist eine Mischung aus einer neuen Freiheit und einer eingeschränkten Zukunft, körperlich und zeitlich gesehen.
Dazu passt die Lektüre des Zauberbergs und die seltsame Verdichtung der Zeit dort, die ich persönlich auch erlebe, wenn ich auf die vergangenen 60 Jahre zurückschaue und gleichzeitig überlege, dass der Zauberberg „erst“ 100 Jahre alt ist.
Wenn ich also im Einführungskapitel des Zauberbergs lese:
„Nicht jedem passiert jede Geschichte“
kann ich jetzt schmunzelnd auf die Jahre zurückblickend aus vollem Herzen sagen: Ja, das stimmt. Aber dazu ein anderes Mal.
Ich erlebe eine eigenartige Gleichzeitigkeit, wenn ich auf das Geschehen im Zauberberg schaue, das Themen zu Tage fördert, die uns heute noch in gleicher Aktualität begegnen.
Gleichzeitig sehe ich mich selbst, als junge Frau, den Zauberberg das erste Mal lesend und überhaupt nicht verstehend, welche komplexen Themen hier aufgegriffen werden. Eigentlich habe ich ihn damals als für junge Menschen uninteressant und in viel zu komplizierter, altdeutscher Sprache verfasst, abgetan.
„Eine Geschichte verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit.“
Wer soll diesen Satz verstehen???
Und dann begreife ich ihn plötzlich und frage mich, woran liegt das? Am Alter? An Erfahrung? Oder ist die Zeit einfach reif.
Was heisst das eigentlich? Die Zeit ist reif?
Ich sehe die goldenen 1924er im Geiste aufleben, blicke auf die wilden 1970er, in denen ich zwar schon gelebt, aber die ich erst rückwirkend verstanden habe, und finde mich jetzt in den bunten 2024ern wieder.
Und stelle fest: alles war schon da!
Nur die Zeit war nicht reif genug.
Im Gegenteil: die Veränderungen waren zu groß, nicht auszuhalten. Lieber Rückschritte statt Fortschritt. Oder lieber als Fortschritt deklarieren, was Rückschritt ist.
„Sie (die Geschichte) spielt vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein, tief zerklüfteten Wende und Grenze.“
So schrieb Thomas Mann, Anfang der Zwanzigerjahre im Vorwort, das er „Vorsatz“ nennt.
Wenden und Grenzen, ist es nicht das, was wir auch heute wieder erleben? Ich in jedem Fall im nächsten Jahr, Altersgrenze heisst es ja so schön.
Die letzte Altersgrenze, die mir bewusst ist, war kein Auto fahren zu dürfen oder nicht wählen zu können. Das war in den 1980ern.
Die Ende der 1980er sich ereignende Wende hingegen so bedeutungsvoll, dass wir kaum glaubten, wir würden sie zu unseren Lebzeiten erleben.
Wohin wenden wir uns? Wogegen grenzen wir uns ab. Auf einer Lebensreise geht es uns vielleicht wie dem jungen Hans Castorp, der reist und liebt und lernt und sich mit allerlei Themen auseinandersetzt.
Wie wir, als wir uns orientierten, auf das Leben ausrichteten. Ein wenig fühle ich mich grad wieder so.
Ich freue mich, wenn ihr mitlest, mitdenkt und Eure Gedanken hinterlasst!