Palingenetischer Ultranationalismus – eine Definition von Roger Griffin
Der Historiker Rogen Griffin definiert in seinem Buch “Faschismus – Eine Einführung in die vergleichende Faschismusforschung” den Begriff Faschismus als palingenetischen Ultranationalismus. Ich halte diese Arbeitsdefinition für sehr treffend und möchte in diesem Artikel kurz erläutern, was Griffin damit meint und gleichzeitig meine Sichtweise einfließen lassen. Warum dieser Artikel? Die AfD könnte 2024 die stärkste Partei in den Landtagen von Thüringen, Sachsen und Brandenburg werden. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Faschismus auch in breiten Schichten der Gesellschaft und nicht nur an Universitäten ist daher notwendig geworden. Das Zielpublikum für diesen Artikel sind nicht AfD-Wähler:innen, die “bekehrt” werden sollen, sondern das demokratische Publikum, das sich mit der aktuellen politischen Lage beschäftigen möchte und als Multiplikator für den Antifaschismus in die Mitte der Gesellschaft wirken möchte.
Palingenese ist eine Wortschöpfung aus palin = wieder und genese = Geburt/Erneuerung. Mit Wiedergeburt/Palingenese meint Griffin die Wiedergeburt der Nation. Wiedergeboren werden kann nur etwas, das eine Entität oder einen Körper hat und lebt. Die Nation wird also als eine Art Körper aufgefasst (vgl. auch den nationalsozialistischen Begriff des “Volkskörpers”), der sich gegenwärtig in einem elenden Zustand befindet, der nicht mehr korrigiert werden kann und daher einer Wiedergeburt bedarf. Dieser elende Zustand wird nicht als selbstverschuldet angesehen. Schuld an der imaginierten Misere der Nation ist im Faschismus immer eine fremde Macht (das “internationale Judentum”, die Bolschewiken, die Liberalen/Demokraten, die Lügenpresse, die linksgrün-versiffte Regierung usw.), denn ohne diese fremde Macht, die die Nation klein hält, hätte diese schon zu ihrer “wahren Größe” gefunden. Der MAGA-Slogan von Donald Trump heißt passenderweise auch “Make America Great Again”, die USA als Nation soll also wieder zu “wahrer” Größe finden. Die Vision der Faschist:innen, die meist sehr vage als Mythos dargestellt wird, ist die Wiedergeburt der Nation durch eine Art gewaltsame Läuterung. Griffins Palingenese bezieht sich jedoch ausdrücklich nicht auf eine gewaltsame Revolution wie die französische oder die russische. Diese Art von Revolutionen will Gesellschaften zwar auch neu ordnen, aber explizit nicht auf der Grundlage der sogenannten Ethnie. Im Faschismus geht es um eine Wiedergeburt, die darauf abzielt, die Nation zu einer imaginierten Größe und Reinheit zu formen. In diesem Akt der Wiedergeburt müssen, wie in Björn Höckes Buch explizit dargestellt, Teile des “Volkskörpers” herausoperiert werden, muss die Nation in einem nationalistischen oder besser ultranationalistischen Sinne rein werden. In diesen Zusammenhang gehört auch die von Teilen der AfD geforderte “millionenfache Remigration”. Schuld an der “Misere der deutschen Nation” sind hier die Migranten aus Afrika und dem Orient, die durch millionenfache Remigration aus Deutschland “entfernt” werden sollen.
Was ist Ultranationalismus? Im Ultranationalismus wird der eigenen Nation der höchste gesellschaftliche Wert zugeschrieben. Werte wie Freiheit, Individualität, Solidarität, Menschenwürde etc. sind der Nation stets untergeordnet und verhandelbar. Die totale und dauerhafte Hingabe und Opferbereitschaft des Individuums wird als Voraussetzung für die Wiedererlangung nationalen Ruhms und nationaler Größe angesehen. Das Individuum hat also sich dauerhaft der Nation unterzuordnen, wobei die Betonung hier auf “dauerhaft” liegt, denn natürlich gibt es auch Krisen und Notlagen (Kriege, Pandemien etc.), in denen die Rechte des Individuums zu Recht beschnitten werden müssen.
Roger Griffin definiert Faschismus als eine politische Ideologie, deren Mythos der palingenetische Ultranationalismus im obigen Sinne ist. Natürlich gibt es viele verschiedene Definitionen von Faschismus, und es macht keinen Sinn, verschiedene Definitionen in einem akademischen Streit gegeneinander auszuspielen. Der Vorteil der Definition von Griffin besteht darin, dass der Faschismus nicht aus der Sicht seiner Gegner definiert wird, die dann meist negativ konnotierte Begriffe verwenden. Dazu gehören zum Beispiel sogenannte marxistische Definitionen, die den Faschismus als Handlanger oder Agenten des Kapitals oder der Bourgeoisie sehen. Dazu gehören aber auch liberale Definitionen, die den Faschismus als menschenverachtende, illiberale, antihumanistische Ideologie definieren, was natürlich so ist, aber als Definition ungeeignet ist, weil diese Attribute auch auf diverse andere Ideologien zutreffen. Die beiden definitorischen Schlüsselbegriffe des Faschismus sind die “gewaltsame Wiedergeburt der Nation” und der “Ultranationalismus als absoluter Wert, dem sich alle anderen Werte unterzuordnen haben”.
Natürlich ist Faschismus mehr als die obige Definition und natürlich ist es wichtig, verschiedene Dimensionen/Facetten/Modi des Faschismus zu betrachten. Robert Paxton zum Beispiel sieht Faschismus als einen sich entwickelnden Prozess, der verschiedene Modi hat, je nachdem, ob er an der Macht ist oder nicht. Natürlich gibt es nicht “den Faschismus”, sondern viele verschiedene, wie z.B. den italienischen Faschismus eines Mussolini, der sich vom nationalsozialistischen Faschismus in Deutschland unterschied und wiederum andere Schwerpunkte hatte als der Faschismus der kroatischen Ustascha, der rumänischen Eisernen Garde oder der spanischen Franquisten.
Es ist mir aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass Faschismus keine Ideologie aus der Geschichte ist, sondern ein politischer Begriff mit aktueller Relevanz. Heute erleben wir in Teilen des Internets den sogenannten digitalen Faschismus, der eine ganz neue Form des Faschismus darstellt, siehe dazu auch das Buch “Digitaler Faschismus” von Maik Fielitz und Holger Marcks. Diese neue Form des Faschismus hat keine typische hierarchische Struktur, sondern zeichnet sich durch eine scheinbar radikal horizontale Hierarchie aus. Jeder, der ein Smartphone besitzt, gehört quasi automatisch dazu. Diese scheinbar horizontale Struktur mit ihren “kleinen Führern” als Influencer erfüllt das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, führt aber gleichzeitig zur Selbstmanipulation und Radikalisierung von “Blasen”, die von Parteien und politischen Aktivist:innen ausgenutzt werden können und ausgenutzt werden. Im digitalen Faschismus gibt es also keinen “Führer”, der die Massen mit seinen ekstatischen Reden radikalisiert, die Internetuser:innen manipulieren und radikalisieren sich selbst. Der “Führer” ist das Internet bzw. das soziale Netzwerk selbst, das radikalisiert und abhängig macht.
Wann immer in der Politik von der Wiedergeburt einer großen Nation die Rede ist, die in unverschuldeter Not lebt, sollten wir alle als Demokrat:innen zumindest hellhörig werden und genauer nachfragen, ob sich dahinter nicht ein palingenetischer Ultranationalismus verbirgt.