Wollte ich unfair sein, so würde ich Adrienne Fichter unterstellen, sie könne sich von ihren rund 16.700 Twitter-Followern so schwer trennen. Ihr Text für republik.ch (https://www.republik.ch/2022/11/25/twitter-darf-nicht-sterben) operiert nämlich mit einer bombastischen Kernthese:
„Twitter hat schon längst den tipping point überschritten: den Zeitpunkt, an dem der Kurznachrichtendienst systemrelevant geworden ist für die globale Öffentlichkeit.“
Diese These bleibt weitgehend unbelegt – es wird auch nicht erklärt, wie man diese Systemrelevanz feststellen könne (typisch für solche Begriffe aus der politischen Überwältigungslyrik), geschweige denn, wie sie sich falsifizieren, also widerlegen ließe.
Bestätigungsfehler
Twitter sei ein zentraler digitaler Ort, „wo wir von den Protesten im Iran oder dem Krieg in der Ukraine aus erster Hand erfahren würden“.
Was aber ist mit Konflikten, von denen wir nicht auf Twitter erfahren? Wo sind die Tweets und Accounts aus Äthiopien und der Tigray-Region, um nur einen der jüngsten Konflikte auf der Welt zu nennen? Tatsächlich genügt es in der Regel, eine aktuelle Ausgabe eines guten journalistischen Produktes durchzublättern, um eine Vielzahl an Themen vorzufinden, die bei Twitter nicht oder nur in verschwindend geringer Zahl berichtet werden. Die Themen, die selbst darin nicht behandelt werden, kommen noch hinzu.
So formuliert Fichter ungewollt einen Bestätigungsfehler: Natürlich erfahren wir auf Twitter von den Konflikten, von denen wir auf Twitter erfahren. Von den übrigen aber nicht. Das ist per se nicht schlimm: Kein Medium leistet einen Vollüberblick, die wenigsten würden sich aber auch als zentrale Orte bezeichnen.
Rechenschaft ohne Rechenschaft
Mit der durch Twitter geschaffenen Öffentlichkeit sei zudem accountability – also „Rechenschaftspflicht“ – geschaffen worden: Entscheidungsträger könnten für ihre Aussagen zur Verantwortung gezogen werden. Beispiele hierfür lassen sich in der Tat aufzählen. Aber sie genügen nicht, um von einer verlässlichen Rechenschaft zu sprechen, geschweige denn einer „Pflicht“. Zu leicht ist es, Tweets zu löschen, zu unverbindlich ist die Teilnahme am Netzwerk, zu unzuverlässig dessen künftiger Bestand. Unverlässliche Rechenschaft ist aber in der Konsequenz: keine Rechenschaft.
Sodann schildert die Autorin kritisch die sogenannte „Messengerisierung“ anderer Netzwerke wie Facebook mit einer bemerkenswerten Konsequenz:
Relevante und wissenswerte Kommunikation von Bürgerinnen, Firmen, NGOs, Verbänden und politischen Entscheidungsträgern verschwindet mehr und mehr in private digitale Räume. Und ist damit für Aussenstehende nicht mehr nachvollziehbar.
Das halte ich offen gesagt für blühenden Unsinn. Politik, Verbände und NGOs haben auch nach 2014 weiterhin fließig in die öffentlichen Netzwerke wie Twitter gepostet, die wurden ja nicht durch Messenger ersetzt.
Zur Abrundung dieses Verrisses möchte ich mit einer nicht minder abwegigen These gegenhalten: Twitter ist ein Unterhaltungsmedium, das sich erfolgreich als Informationsmedium tarnt. Seit dem Flugzeug, das im Hudson landete, hat Twitter erfolgreich für sich diesen Status des irrsinnig schnellen Informationsmediums aufrechterhalten und ausbauen können. Wie das gelang, ist mir weitgehend ein Rätsel. Aber es fühlte sich sicher besser an, das mindless scrolling als Information zu verklären.