Alchemie des Fiktionauten

992 Die Tabus um die Kirsche

In der Kindheit, dieser Berg an Kirschen, der vor mir in einem geflochtenen Körbchen lag! Unerlaubt (in mehrfacher Hinsicht) habe ich ihn gierig verzehrt. Der Tabus waren ungeachtet dessen viele.

Erstens: “Ungewaschen”, das war mir aufgetragen worden, “isst man Obst niemals!” Omas mangelnde Gesundheit sei der Beweis. Sie sei einst wegen des Genusses ungewaschener Marillen mit einem Darmverschluss ins Spital eingeliefert und dort operiert worden. An den Folgen der Operation laboriere sie noch immer. Also, vernünftig sein und das Verbot beachten. Ich wunderte mich schon damals, in den umweltnaiven Sechzigerjahren, warum man Gift auf Lebensmittel sprühte.

Zweitens: Kerne seien auszuspucken und nicht runterzuschlucken! Auch dies verursache den berühmt – berüchtigten Verschluss des Darmes oder zumindet einen “Blinddarm”. Von der Entzündung desselben bin ich 67 Jahre verschont geblieben. Trotzdem erinnere ich mich bis heute an die Drohung, welche bis heute an Schrecken nur wenig verloren hat. Geschluckt hab ich die Kerne (als Kind) trotzdem. Einfach so, um auszuprobieren, wie sich das anfühlte.

Drittens: Die ausgespuckten Kirschenkerne seien in die halb geöffneten Faust zu spucken und dann in einer Schale abzulegen. Die Urgrossmutter konnte dies mit Bravour vollbringen, ich hingegen fand diese Prozedur aufwendig und deshalb schlicht inpraktikabel. Ich spukte die Kerne deshalb so gerne aus dem Fenster. Aus den Augen, aus dem Sinn! Es gab Beschwerden, oft von alten Frauen. Und Ohrfeigen, von anderen alten Frauen.

Viertens: Immer um Erlaubnis bitten, wenn man sich an den verführerisch roten Früchtekorb heranmachen wollte. Das war Hausgesetz. Es konnte ja sein, dass es die besonders schönen Herzkirschen waren, die da das Begehren nährten. Diese waren nämlich ausschliesslich (sic!) für den Kirschengeist vorgesehen, den die Mutter für die Winterzeit vorbereitete. Die Kirschen lagen dann Monate in einem Glasballon und reiften zusammen mit dem Ansetzkorn Sommer und Herbst vor sich hin. Nicht einmal daran denken! Alkohol ist Gift für das Kind!

Fünftens: Noch eine weitere Kirschensorte war mit striktem Essverbot belegt: die Vogelkirsche. Sie verursache Erbrechen, mit hoher Wahrscheinlichkeit. Doch in Flur und Feld lockten diese wildwachsenden Kirschen im satten Grün der Baumkronen. Sie zu erklettern war ein zusätzliches Vergnügen. Sie schmeckten bitter und das verstärkte die Lust, etwas Verbotenes getan zu haben.

Ach, bittere Kindheit!

Doch nicht nur Tabu, sondern natürlich auch Zauber umgab die Kirsche. Die Köchinnen im Haus betrieben ihr geheimnisumwobenes Hexenwerk und so wurde Marmelade daraus gemacht, Herzkirschen in hochprozentigem Korn mit Vanillestangen eingelegt, Kompott zubereitet und Kirschenkuchen gebacken. Auch die ungeliebten Kirschenkerne kamen letzten Endes zu ihrem Recht. Sie wurden gewaschen, auf Zeitungspapier ausgelegt und getrocknet: zuerst an der Luft, dann im geöffneten Ofenrohr, dann in Leinensäckchen eingenäht. Erwärmt waren Kirschensteinsäckchen dann wunderbare Wärmespender, die man sich zu Heilungszwecken an den Körper legte.

Ach, die Hexen meiner Kindheit!


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