021 Über Grenzüberschreitungen 1
Zweimal finde ich in meiner aktuellen Lektüre Grenzen thematisiert. In Ruth Blums Buch “Blauer Himmel. Grüne Erde (1941)” und in Ursula K. Le Guins Buch “The Dispossessed” (1974)”. Und gerade komme ich aus dem Kanton Schaffhausen zurück. Grund genug, über Grenzen zu schreiben.
Zunächst berichte ich aus der Erfahrungswelt eines Kindes. Ruth Blum widmet in ihrer sgn. Autobiographie ein ganzes Kapitel der Grenze. Es ist die Zeit des Grossen Krieges und die Erwachsenen sprechen darüber in unheilvoller Weise, welche die eigene Kindheit immer wieder wie ein Schatten verdunkelt. Der Krieg ist da draussen, jenseits der Grenze, die von den Schweizer Vätern beschützt werden muss. Der eigene Vater wacht am Gotthart in Schnee und Eis über die Sicheheit der Familie. Da muss die Grenze ein Bollwerk sein, eine riesige Mauer, die den Krieg Draussen hält, damit im Inneren Frieden herrscht. Eingeklemmt zwischen den Franzosen und Deutschland liegt die Schweiz im Ersten Weltkrieg. Ein viel beschworenes Bollwerk ist das Land, umgeben von einem bewachten Grenzzaun. Doch in Wirklichkeit verirrt man sich rasch entlang der fragilen Trennlinie zwischen Ländern und Kulturen.
Das Unverständnis, was denn eigentlich eine Grenze sei, ist gross bei dem Mädchen aus einem kleinen Dorf im Klettgau. Es kann nicht verstehen, dass diesseits und jenseits dieselbe Landschaft, derselbe Sommer existieren, diesselben Menschen leben und sich kaum von einander unterscheiden. Nur das Schweizer Zollhäuschen gibt an, dass hier irgendwo das eigene Land enden muss und der Krieg dahinter tobt. Und so geschieht es, dass sich das Mädchen namens Regine ohne rechte Orientierung auf die deutsche Seite der Grenze verirrt. Dort, wo sie dunkel gekleidete Frauen bei einem Begräbnis beobachtet, muss Regine erstaunt feststellen:
Da draussen war ja keine Zerstörung, kein Untergang. Keine blutigen Schlachten, keine brennenden Häuser erfüllten dieses stille deutsche Tal. Nicht ein einziger Trommelwirbel erschütterte seine schläfrige Mittagsruhe. Nur friedliche Rauchwölklein wirbelten über den Dächern auf und dem Bächlein entlang weideten weisse Schafe.
Doch irgendwo kommt der Abschluss, das Ende, die Grenze ins Spiel. Das Mädchen wird von einem Grenzsoldaten aufgegriffen und wieder in die Schweiz zurückgeschickt. Doch ihr Glauben an die Undurchlässigkeit der Grenze ist erschüttert: sie hatte ja selbst gesehen, dass es dort weder Bollwerk noch Zaun. weder Turm noch Graben gab, sondern nur ein paar graue Steine am Boden lagen. Die Grenze ist ihrem Wesen nach durchlässig und so auch die Welten zu beiden Seiten.
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