048 Fiktionaut zwischen Fakt und Fiktion
Was ich in meinem vorhergehenden Versuch einer Begriffsbestimmung des Fiktionauten besonders betont habe, war das Merkmal der mentalen Reise und der damit verbundenen Abenteuer. Auch schrieb ich, dass der Fiktionaut auf seiner Reise nach Geschichten nur sich selbst und seinem Können verpflichtet sei. Nicht behandelt hatte ich, in welchem Kontext er sich dabei zwangsläufig einschreibt.
Denken wir also weiter. Ist der Fiktionaut ein Bewohner des Internet, dann reist er in einer Welt, die durch das Storytelling der (sozialen) Medien massgeblich geprägt ist. Dies ist nicht das, womit er auf seiner Reise gerechnet hat: ging er doch davon aus, dass er in Freiheit und Selbstbestimmtheit reise. Es war naiv, denn das Gegenteil ist der Fall. Er navigiert zwischen Skylla (dem Trugschluss) und Charybdis (der Lüge) in einem Meer gefährdeter Wahrheit. Was ist heute noch Fakt und was Fiktion?
Dazu ein Beispiel: 2008 wurde das Medium Fictionaut (sic!) gegründet, das sich zur Aufgabe gesetzt hatte, unter Zuhilfenahme der neuen Möglichkeiten des Internets die Texte einer kleinen Gruppe von Autoren zu sammeln. In einem Interview berichtet einer ihrer Gründer, Jürgen Fauth, darüber. Online Publishing war damals noch neu und schien revolutionär: Verlockend war, die Möglichkeiten eines im Entstehen begriffenen sozialen Netzwerks zu nutzen, um Texte mit literarischem Anspruch den Lesern unter Umgehung der Mechanismen des Buchmarktes näher zu bringen. Gemeinsam und “authentisch” wollte man die Welt erobern, ohne Lektorat, Verlag und Markt. Der Fictionaut wurde so zum Abenteurer, welcher, einmal aufgenommen in den erlauchten Kreis der Mitglieder, am gemeinsamen Mythos und der eigenen Wirklichkeit arbeitete. Ausgeliefert an einen Algorithmus, der die beliebtesten Texte zuoberst platzierte (die sgn. “recommendation engine”), war seine Präsenz und sein Ansehen dem Zufall überlassen. Seine Mitgliedschaft aber verdankte er einer rigiden Einladungspolitik, die Qualität sichern, aber auch den Missbrauch der Plattform hintanhalten sollte. Die im Hintergrund wirksamen Algorithmen, die rigorose Einladungspolitik und das Monitoring der Websites verursachten letzten Endes eine Engführung der Publikationen und eine Verzerrung der dargestellten Wirklichkeit. Hinter der Behauptung von der Offenheit der Prozesse stand Steuerung, die dem Anspruch sich selbst bewährender Qualität durch Freiheit zuwider handelte. Das Abenteuer von Lesen und Schreiben, also das Abenteuer der Fictionauts war eine Totgeburt.
Diese Geschichte zeigt, das die Gesetzmässigkeiten des Web 3.0 den Charakter der Nicht-Vorhersehbarkeit des Abenteuers von Lesen und Schreiben konterkariert. Die Ideologie der Freiheit wird sofort begraben durch die Steuerung der Algorithmen. Droht das auch dem von mir postulierten Fiktionauten? Ist er nicht auch nur eine Marionette jener Wirkmächtigkeiten des Internet der Dinge, welches verlogen als soziales Netzwerk gefeiert wird? Und gilt es nicht, noch viel Gefährlicherem mit Entschiedenheit zu begegnen: dem drohenden Verschwinden der Grenzen zwischen Fiktion und Realität, welche die Welt erfasst hat?
Kann der Fiktionaut also so tun, als hätte er die Freiheit der literarischen Entdeckung und des fiktionalen Schreibens gepachtet, ohne dass er dabei auf die sich immer wieder verschiebende Grenze zwischen Realität und Fiktion Bedacht nimmt? In dem Moment, in der er das Web 3.0 auf seiner Reise in die literarischen Welten (Recherche, Produktion, Publikation) das Internet nutzt, fällt er seinen Mechanismen anheim. Was braucht es also, damit das Reich des Fiktionauten nicht zu einer Fictiocratie verkommt?
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