Notizen eines Fiktionauten.

067 Figurenkabinett 01: Lore

Lore lehnt am Spielautomaten im Durchgang zum WC. Gross, schlaksig, mit wellig-wuscheliger Frisur. Hinter ihr in einer Ecke eine Reisetasche und ein Wanderstab aus Metall. Sie trägt eine schräggeschnittene beige Bluse und einen weit schwingenden, bis an die Knöchel reichenden Rock in Grau; darunter hohe Stiefel aus grobem, schwarzen Stoff. Aus Arbeitsgründen dürfen es manchmal auch Cargohosen sein. Sie besitzt welche in Grau, Petrol und Dunkelblau. Lore zieht Röcke vor.

Sie wird in diesem Moment gerade 20 Jahre sein, sieht aber älter aus. Ihre Gesichtszüge sind markant und finster, keinesfalls mädchenhaft. Sie wird schnell altern, hager werden und niemals auch nur ein bisschen Fett ansetzen. Sie trainiert ihren Körper in wütender Ausdauer, als müsse sie einen inneren Feind bekämpfen: Gewichtheben, Dehnungsgymnastik, Wan Tong Meditation.

Man hat sie vom Planeten OLA mit einem Raumflieger auf die Station gebracht, sie, den Störenfried, diese unruhige und bittere Frau, die ihre öffentlichen Auftritte nur mehr in den Kantinen der Raumstationen des Orbit abhalten darf. Es ist ein Verweis, eine Ausweisung, eine Isolation, die über sie verfügt wurde. Doch auch darin sollte sich die Gütige Verwaltung von Earthseed getäuscht haben, und auch für Lore war es überraschend. Denn hier auf der Raumstation sucht sie Arbeit in ihrem ursprünglichen Beruf als Technikerin. Die hat sie mehr aus Zufall als wegen ihrer sozialen Geschicklichkeit bekommen. Ein Abenteuer erwächst aus dieser Anstellung, die sie an die Grenzen des Universums führt. Das kann sie nicht ahnen.

Es gibt eigenartige Schicksalsverläufe auf OLA. Jede Person wird so, wie es für sie von ihrer Umgebung vorgesehen ist und jede Person versucht, etwas daraus zu machen. Oft misslingt das, und so soll es auch gut sein. Manchmal aber wird ein Weg eingeschlagen, den man nie gehen wollte, wird ein Ort erreicht, zu dem man nie kommen wollte. Eine Störung eben, etwas Irreguläres. So wird aus dieser störrischen jungen Frau eine unbotmässige Eroberin des Weltraums, eine Politikerin, die sich den Regeln der Welt von Earthseed angepasst hat. Sie ist eine Rebellin im Schafspelz scheinbarer Anpassung, sie täuscht alle, sogar sich selbst. Das mag letzten Endes noch gefährlicher sein, als die Schicksale bekennender Aufrührer, welche sich den Kopf an den Ecken und Kanten der Gütigen Verwaltung blutig schlagen.

Lore also wird vom bösartigen Star ihrer kritisch-aggressiven Show zur Abenteurerin mit Rückgrat, die sich nur dem eigenen Ethos verpflichtet fühlt. Sie ist zu Beginn ihrer Entwicklung einer der Free Speech Girls, die OLA unsicher machen. Sie stiehlt in heimlicher Kumpanei wertvolle Erze auf fremden Asteroiden, perfektioniert sich in verdeckten Operationen und schamlosen Lügen, ist geschmeidig in ihrer Anpassung an die waltende Macht. Ihre Bitterkeit auf Earthseed bleibt bestehen, ihr Urteil ist scharf und unerbittlich. Etwas scheint sie tief in ihrem Inneren aufzurühren, etwas, das mit dem unerklärlichen Tod ihrer Mutter zu tun haben muss.

Lore liebt nicht offen, nur heimlich und auf verquere Weise. Tyen Nomasky etwa, den vereinsamten Raumschiffkommandeur, dem sie ihre Arbeit verdankt und zugleich den Weg in die Kriminalität. Er ist ihre Vaterfigur, ihr Held, dem sie sich anzuvertrauen vermag. Gleichzeitig stösst sie ihn immer wieder von sich, mit der frechen und schnoddrigen Art einer Aufsässigen, mit ihrem Aufbegehren gegen jede Form von Autorität. Sie fühlt ihre Verbindung zu ihm und verleugnet sie gleichzeitig. Sie bewegt sie sich wie in einem selbstgeschaffenen Käfig: Ein ununterbrochener Kreislauf von Begehren und Ablehnung, von Vertrauen und Misstrauen, von Lebendigkeit und passivem Abwarten.

Da ist natürlich die Mutter, die so wie ihr Vater nicht mehr lebt, umgekommen in der Unwägbarkeit der DiaPause. Dass die DiaPause tödlich ist, wird von Earthseed Space regelmässig zerredet und letztendlich geleugnet. Die DiaPause: Ein Mythos vom Schlaf auf galaktischen Reisen. Auch Lores Eltern haben sich ihm freiwillig hingegeben im Vertrauen auf eine leuchtende Zukunft. Aber diese Zukunft endete mit dem Nicht Mehr Erwachen des Vaters, der in einem blöden Dämmerzustand verblieb, bis man seine Lebensfunktionen abgeschaltete. Die Mutter starb wenige Jahre danach, mit Organschäden, die man ganz offensichtlich auch der DiaPause zuschreiben musste. Was für eine Familie, die immer auf ihre Kinder vergisst und sich dem Sterben überlässt! Ihnen bleiben Heime, Internate, Schulen, wo sie mit Aufmerksam erdrückt und mit Förderung gefoltert werden.

Wen wundert es, dass sich Lore in fast alle Abenteuer stürzt, denen sie begegnet? Zunächst als Angehörige der Zunft der Free Speech Girls, die man hasst aber demokratisch tolerieren muss, die das Establishment am liebsten in der nächsten Sonne verglühen wollte, deren aggressiven Gesängen man aber in trunkenen Nächten enthemmt zujubelt. Oder jenes andere Abenteuer, zu der sie der eigenartige Kommandeur des Raumschiffs Porphyros verleitet hat: den systematisch betriebenen Diebstahl wertvoller Materialien. Jenes Abenteuer auch, bei dem sie Odo kennenlernte, den bis zur geistigen Paralyse getriebenen Passagier, der durch Welten und Zeiten von der Erde geflohen war um in der Unendlichkeit zu verschwinen, als hätte es ihn nie gegeben. Abenteuer folgte Abenteuer, als wäre die Spannung, das Ungewisse, das Bedrohliche und Unvorhersehbare zum Fokus von Lores Leben geworden. Als wäre sie mit einem unklaren Schicksal geboren worden, das sich letztendlich als chaotische Suche herausstellen würde.

Wo also geht sie hin? Auf eine lange Reise jedenfalls, die mit der Expedition auf einem Asteroiden begann, sich mit einer langen Reise zum Rand von Alpha Centauri fortsetzte und in einem politischen Amt enden sollte: einer Verantwortung für die Zivilisation von Earthseed, die sie so sehr verachtete, bis zuletzt. Während ihr Gefährte Tyen in den Weiten des Weltalls verschwindet, kehrt sie zu dem Planeten zurück, dessen Behörden sie einst von seiner habitablen Zone vertrieben hatte. Sie nimmt bei ihrer Heimkehr die Herzen der Bewohner im Sturm. Denn die verspricht den Menschen alles, was im Grunde niemals versprochen werden kann: Das Leben in der Utopie einer besseren Welt.

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