Notizen eines Fiktionauten.

068 Figurenkabinett 02: Die Earthseed Zivilisation

Eine Volkszählung aus dem Jahr WXYZ hatte ergeben, dass auf OLA 12.350 Personen lebten, darunter bloss wenig mehr als 1.000 Kinder unter 15 Jahren. Die Gute Verwaltung Earthseed war darüber sehr in Sorge, denn ihre Zivilisation entsprach schon aufgrund ihrer Altersstruktur bei weitem nicht einer, von der man Dynamik und Veränderung erwarten konnte. Aber die Herausforderungen der Gegenwart waren gross und wohl auch überwältigend.

Die 45 bis 60 jährigen stellten die grösste Bevölkerungsgruppe, das waren die Kinder der Pioniere, die den Flug von der Erde nach Alpha Centauri überlebt hatten. Sie hatten ihre besten Jahre an den Bau der Pavillons in der Schattenzone von OLA verwandt, waren ausgelaugt von den Strapazen der Kolonisation, von der damit verbundenen Arbeit, die nicht nur an ihren Energien, sondern auch an ihrer Gesundheit gezehrt hatte. Müde, kranke Menschen, die sich ihren Traum erfüllt hatten, aber doch in einen Alptraum eines Lebens in Mangel, Entbehrung und Enttäuschung geschlittert waren. Mehr gab der Planet und ihre Ressourcen einfach nicht her! Denn das Leben war hart auf OLA und die Möglichkeiten, den Planeten zu entwickeln, durchwegs sehr beschränkt. Sein Ökosystem pendelte zwischen zwei Extremen: Todbringende, das ganze Planetenjahr gleichbleibende Kälte oder auf der gegenüberliegenden Seite Hitze und Strahlung. Anders als die Erde drehte sich OLA beim Orbit um Proxima Centaur nicht um seine eigene Achse. Deshalb war auch nur ein schmaler Streifen zwischen Dunkelheit und Licht bewohnbar: die Dämmerung. In dieser Zone hatten die Pioniere in das nasse Gestein gebohrt und Stollen für ihre Pavillons gegraben wie galaktische Maulwürfe. Von diesen provisorischen Stützpunkten aus gingen sie ihrer Arbeit nach, in die Kuppelbauten der Wissenschaft, der Technik und der Agrokulturen mit ihren elliptischen Grundrissen und Aufbauten aus Glas, die sich in die Stürme schmiegten, welche das ganze Jahr hindurch tobten. Fünf derartige Siedlungen gab es, mehr nicht. Unfreundliches, kaltes und nasses Wetter, nicht ungefährlich wegen der periodisch auftretenden, kosmischen Strahlung. Keine Jahreszeiten, immer die gleichen Lichtschwankungen, immer und ewig Monotonie. Die Enttäuschung frass diese Generation auf. Sie war umso schwerer zu ertragen, je mehr sich die Menschen der offiziellen Doktrin von Hoffnung und Wandel verschrieb. Diese abgekämpfte, müde und enttäuschte Population der über Fünfzigjährigen war mehr als überfordert von den Aufgaben, Werten und Idealen, mit denen sie einst von der Gründermutter Lauren Olamino auf den Weg geschickt worden waren. Ihr ganzes Leben wollten sie diese Prinzipien in die Wirklichkeit umsetzen und konnten dabei doch nur zusehen, wie sie daran scheiterten

Aus dieser Generation stammten fast ausschliesslich auch jene, die die politischen Geschicke der Generation lenkten und sie kompensierten das Desaster von OLA schamlos. Das Buch der Lebenden war für diese Menschen nicht nur Glaubensbekenntnis, sondern politisches und ideologisches Credo. An die Tautologien des Gesagten glaubten sie, danach handelten sie, dazu versuchten sie zu überreden, mit aller Macht. Dass es die Aufgabe der Earthseed Zivilisation sei, Erdenleben zu neuen Welten zu bringen, war unverrückbares Dogma geworden, sodass es letzten Endes wahr werden musste, selbst wenn es unmöglich erschien. Auf allen Regierungsgebäuden prangten die Worte von Lauren Olamino: “Earthseed is all that spreads Earthlife to new earths.” Ein totes Glaubensbekenntnis, das der ewige Wind auf OLA bewegte, so wie einst der Erdenwind die Fahnen der tibetanischen Mönche auf dem verlassenen Planeten. Denn man verdorrte auf OLA, mehr nicht!

Nur wenige dieser Pioniere wussten um die Lügen, auf denen Earthseed errichtet worden war; wussten um die unheilvollen Ereignisse, die der Kapitän des dritten Raumschiffs der Erde auf Alpha Centauri zu verantworten hatte; wussten von den Verbrechen und Lügen einer Besatzung, die bis heute tiefe Verehrung in der Bevölkerung genoss. Der Held von OLA, dieser unfähige Kommandant, war vor Kurzem verstorben und hatte die Geschehnisse rund um die Landung mit ins Grab genommen. Drei Zeugen der einstigen Besatzung lebten noch, waren indes schon ihrem Tod so nahe, dass man ihnen keine klare Erinnerung zutrauen wollte. Die materiellen Zeugen der Geschehnisse: begraben, verschüttet, versenkt an Orten, die man zum Teil gar nicht kannte. Auch in der KI fanden sich zwar Spuren der schändlichen Wahrheit, aber auch sie war manipuliert und des Sinns beraubt.

Dass die Kinder dieser Generation die Bigotterie ihrer enttäuschen Eltern und Grosseltern nicht verstehen konnten, lag auf der Hand. Sie, die ja nichts anderes kannten als “ihren” Planeten, vermochten das Pathos und den verborgenen Schmerz ihrer Eltern nicht zu teilen. Sie lehnten die Lebenseinstellung der Vorfahren im Grunde ab. OLA war ihre Heimat: eine unzulängliche zwar, aber auch eine, die sie mit einem Set an Fertigkeiten und Wissen aus den Schulen entlassen hatten, das sie stolz machte, kritisch und kreativ. Die Märchen von der Mutter Erde, mit ihrer einst blühenden und sanften Natur mochten sie nicht glauben, den Heroismus der Pioniere die das geschaffen hatten, worauf sie aufbauten, belächelten sie. Nicht viele der Pioniergeneration hatten sich entschliessen wollen, Kinder in die Welt zu setzen. Daher hegte und pflegte man die wenigen Jungen, die auf OLA siedelten, verwöhnte sie und redete sich ein, dass diese Generation einst das schaffen werde, was einem selbst verwehrt war: das Universum mit dem Samen von Earthseed zu befruchten.

Eine Elite waren sie: wenige, die exzellent ausgebildet waren, die mit den von anderen geschaffenen Strukturen bestens umzugehen wussten. Und so lauerten sie, höflich und geduldig, auf den Moment, wo einst sie die Geschicke von OLA lenken würden, den Augenblick, an dem die Gerontokratie abzudanken gedachte. Eine Elite der Überheblichkeit, ohne den Zugang zur eigenen Geschichte.

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