Notizen eines Fiktionauten.

071 Figurenkabinett 04: Allaine

Allaine ist nach dem Vorbild einer Schutzmantel-Madonna konstruiert, stellt also eine spirituelle, im Kontext des Romans aber nicht christlich interpretierte nichtmaterielle “Erscheinung” dar. Angelehnt ist sie an die mittelalterliche Bedeutung des “unter den Mantel Nehmens” einer Person, die des Schutzes bedarf. Wer sich unter dem Mantel einer Hohen Frau befindet, geniesst Immunität vor weltlicher Verfolgung.

Gleichzeitig können so uneheliche Kinder während einer Trauung adoptiert werden. Gleichzeitig ist der:die Beschützte wiederum der Verfügung durch die Schutzgewährenden ausgeliefert. Allaine ist im Grunde eine solche Schutzmantel-Madonna, wird aber nie so genannt oder interpretiert. Insgesamt ist sie von grosser Bedeutung für eine der drei zentralen Figuren des Romans. Ihre Macht wird immer wieder in der Handlung spürbar, sie erklären zu wollen, ist aber kein zentrales Anliegen des Romans.

Allaine “erlöst” Odo nicht einfach aus dem in sich geschlossenen System der Emanation, sondern zeigt ihm, quasi als Gegenbild, die Welt hinter den Spiegeln; sie geleitet ihn danach auf das Narrenschiff, das den See des Bewusstseins überquert und dabei untergeht. Odo aber überlebt. In einer noch unbestimmten Handlung wird sie ihn auf das dritte Expeditionsschiff nach Alpha Centauri versetzen, wo er aber aus der DiaPause erwacht und Zeuge krimineller Machenschaften wird. Ebenso mit rationalen Mitteln unerklärlich ist die Platzierung Odos auf einer Raumstation in der Zukunft, wo er von Lore Olamino aufgefunden wird. Ist Allaine gar so etwas wie eine Anomalie des Weltraums, welche das Verhältnis von Raum und Zeit verändert? Das würde für einen SciFi Roman gut passen, Allaine's Bedeutung geht aber weit über diese Erklärung hinaus. Sie ist nicht bloss physikalische Anomalie sondern metaphysisches Erklärungsmodell.

Allaine vertritt einen absoluten Geltungsanspruch im Leben Odos. Denn sie “übergibt” den auf einer Raumstation Aufgefundenen an Lore Olamino. Allaine verwandelt sich quasi in sie, gibt ihr die Macht, Odo weiter in die Zukunft zu führen, wirkt nun in der anderen Frau. Nie wird sie bei all diesen Handlungen von anderen beobachtet, ihre Bedeutung und visuelle Präsenz besitzt sie nur für ihren Schützling, den anderen Personen der Handlung ist sie gänzlich unbekannt. Als unerklärliches Phänomen im Weltraum wird sie allerhöchstens betrachtet, ohne weiter nachzufragen. Unerklärliches ist “normal” da draussen im Universum, etwas mit dem man rechnen muss. Denn viel Unerklärliches darf geschehen im Erzählraum der Science Fiction. Nachdem sich Lore entschlossen hat, vom Rand der Galaxy wieder nach OLA zurückzukehren, erscheint Allaine erneut, um ihren Schützling in die Unendlichkeit des Weltraums hinauszugeleiten. Sie wird, auf einmal ist das deutlich erkennbar, zum Todesengel.

Während also Allaine beschützt und leitet, fordert sie vom Beschützten ihren Tribut. Sie verführt und manipuliert, formt aus dem Opfer einer kalten Welt eine glühende und unabdingbare Gefolgschaft. Allaine hilft, Grenzen zu überschreiten, fordert geradezu dazu auf, dem Fremden, Anderen zu folgen ohne Vorsicht, ohne Vorbehalt. Aber Grenzüberschreitung war immer schon von Gefährdung begleitet: was zunächst als lohnend erscheint für persönliches Erleben, intensives Fühlen und erhöhtem Verständnis, verwandelt sich zum Leiden an sich selbst, zur Selbstaufgabe an ein höheres und nicht sichtbares Ziel. Das sind die beiden Pole des Lebens immer schon gewesen. ???? Nichts kostet nichts.

Allaine führt in die Zukunft. Im Gegensatz zur Emanation verkörpert sie das Leben, vielleicht auch Entwicklung zum Besseren. Deshalb ist auch viel Weihevolles an ihr, fast wie eine griechische Göttin erscheint sie. Dieses Weihevolle gilt es, im Roman zu zelebrieren ohne in Peinlichkeit abzurutschen und ohne das Oeuvre der Science Fiction zu sprengen. Allaine beschreibt die Gegenwelt zur Kälte und Einsamkeit der Emanation, aber auch zum Schweigen des Universums. Denn nichts “hört” man in den galaktischen Welten als den Puls des eigenen, kleinen Lebens. Kein Laut draussen, Stille überall.

Wie also Allaine's Wirken zusammenfassen? Sie ist eine in Odo wirkende Erscheinung, die ihn beschützt, leitet und in seinen Tod führt. Sie entbehrt der Gegenständlichkeit, ist Anomalie und Sehnsucht zugleich. Würde man sie als Teil des Schicksals bezeichnen wollen, ist sie eine der drei Schicksalsgöttinnen? Immerhin entzieht sie Odo seiner Entscheidungsfreiheit zur Gänze.

Letztlich: Wir finden Allaine auch in den Zorya, den Licht- und Himmelsgöttinnen aus dem slawischen Mythenkreis. In dreierlei Gestalt stellt sie sich als Morgenstern, Abendstern und Mitternachtsstern dar. Sie öffnen und schliessen die Himmelspforte und wachen so über das Licht. Diesen Dreischritt möchte ich auch in meinem Roman in geeigneter Form versuchen: das muss sich allerdings erst entwickeln.

#Allaine #Schreibarbeit #Figurenkabinett