072 Figurenkabinett 05: Tusk
Dem verlogenen Kommandanten des dritten Raumschiffs von Earthseed Space, ihm habe ich bis dato noch keinen richtigen Namen gegeben. Er war ein Schreibunfall, denn plötzlich, mitten im Schreiben, in jenem Augenblick als ich seine Figur nach einem kurzen Auftauchen schon längst wieder fallen lassen wollte, entwickelte sich die Idee vom Betrug einer Zivilisation an sich selbst.
Der Kommandant, nennen wir ihn nunmehr provisorisch TUSK, wird von seine Crew aus der DiaPause vorschriftsmässig geweckt, um eine Situation zu meistern, die ausserhalb seiner Kompetenz liegt. Ein schlafendes Mädchen ist verschwunden, ein fremder Mann in den DiaPause Kammern aufgewacht. Wenig später, unmittelbar vor der Landung auf OLA, spitzt sich die Situation durch die Recherchen der Chronisten zu: die Situation droht zu eskalieren, ein Skandal bedroht das Zusammenleben an Bord und so manches gäbe es zu aufzuklären. Dann TUSKS Entschluss, sein Kommando als erstes Raumschiff der Flotte auszugeben, welches den zukünftigen Heimatplaneten erreicht hat. Schritt um Schritt erweitert TUSK das Lügengebilde zu einem Mythos der Entstehung der Zivilisation. Allein, in der Geschichte fehlt es an transparent gemachter Motivation des anonymen Kommandanten. Aus dem Nichts ist er im Roman aufgetaucht, als Nebenfigur, die schon bald wieder hätte im Nichts verschwinden sollen. Er wuchs mit der aufgetischten Lüge über sich selbst hinaus, muss also erst das Potential entwickeln, das ihn antreibt und begründet. Das ist die künftige Aufgabe des Autors.
Was also vermag einen Kommandanten zu derartig gefährlichem Schwindel antreiben? Eine Möglichkeit bestünde darin, die Sucht nach Ruhm, Geltung und Macht eines Mannes zu befriedigen, welcher mit dem Auftrag der Wirtschaft, der Milliardäre einer aussterbenden Rasse, auf den Weg gebracht wurde, um, wo auch immer, die Interessen eines Kapitalismus durchzusetzen, der auf Erden als seine Existenzgrundlage verloren hat. Denn auch das Kapital geht am Mangel an Ressourcen zugrunde. Ein solches Szenario setzt vom Plot her zweierlei voraus: 1. Die Charakterstruktur von TUSK auch im Vorfeld des bisher Erzählten genauer zu beschreiben; 2. Die Janusköpfigigkeit der Expedition von Earthseed zu beschreiben: Aufbruch in eine neue Zivilisation zu sein und gleichzeitig die Suche für eine neue Akkumulation von Rohstoffen zu sein. Auch diese beiden Handlungsstränge müssten noch erzählt werden. Beide Vorhaben scheitern aber zwangsläufig, das Szenario führt uns nämlich in ein neues Dilemma: Denn die Erde geht zugrunde, ist wohl auch zu weit weg, um Absatzgebiet der gewonnenen Rohstoffe zu sein. Und als Zivilisation ist Earthseed zu schwach, zu bevölkerungsarm, zu bedeutungslos, um eine funktionierende Wirtschaft aufbauen zu können.
Ein anderer Weg, die Handlungen des plötzlich für die Handlung des mit einem Mal so wichtigen Kommandanten zu erklären, läge wohl in den Logiken einer Zivilisation begründet, die sich ihren eigenen Mythos der Entstehung schaffen muss, koste es, was es wolle. Der Zwang erfolgreich zu sein, zum Wohle der Menschheit, das ist ein “geheimer” Auftrag, dem alle Kommandanten und Politiker:innen folgen: ein Verhalten, in dem bereits die Erosion von Earthseed angelegt wäre. Es ist etwas, was die Führungskaste der Zivilisation vertritt, im Zwang, erfolgreich zu sein. Am Kommandanten also spiegelt sich das fragwürdige Verhalten einer heilsgeschichtlich motivierten Kaste, die sich verzweifelt an die Ideologie ihrer Gründermutter fesselt. Moral verkommt im Gerede von “Wandel” und “Zukunft in den Sternen” zu billiger Münze. Allerdings: Hat sich das Earthseed der Octavia E. Butler verdient, dass so mit ihm abgerechnet wird? Wie jede Religion ist auch Butlers Konzept von Earthseed in jedem Fall kritikwürdig; es jedoch derart erodieren zu lassen, wie ich es beabsichtige, steht aber auf einem anderen Blatt.
Kann man, was nun die dritte Möglichkeit der Darstellung ist, die Handlungen des Kommandanten allein psychologisch begründen, ihm ähnlich wie Odo eine psychopathologische Ursache zugrunde legen? Während Odo in einer Art religiösen Wahn befangen ist, könnte sich Kommandeur TUSK in die Rolle eines Grössenwahnsinnigen hineinbegeben, der mit körperlichen und psychischen Defekten als Folgen der DiaPause zu kämpfen hat. Dann aber, müsste dies auch im Vorfeld der Ereignisse so angelegt werden und von TUSKS Perspektive her geschildert werden: Was spürt er nach dem Erwachen, wie stellen sich ihm die Ereignisse das dar, wie entgleitet ihm die Kontrolle? Ein Effekt der Diapause wäre es, dass moralisch – ethische Grundsätze des Menschen zerstört werden und Effekte auftreten, wie sie bei Psychopaten (siehe HPH) beobachtbar sind. Der gesamte Roman würde dann immer mehr in die Nähe eines Romans über die möglichen Folgen der DIAPAUSE gerückt werden, auch wenn man die Logik der Suche nach Serdan im zweiten grossen Handlungsstrang berücksichtigt.
Nun sei auch noch eine vierte Möglichkeit aufgezählt: Eine Kombination aus allen drei Erzählsträngen, mit dem Angebot an die Leser:innen, sich aussuchen zu können, was ihnen am Logischsten erscheinen mag. Auch das besässe eine gewisse Logik: den Motivationslagen setzen sich immer aus unterschiedlichsten Begründungszusammenhängen zusammen.