Notizen eines Fiktionauten.

070 Figurenkabinett 03: Odo

Odo: Spirituell veranlagte Persönlichkeit, die in der Stille einer Zivilisation lebt, die als Emanation bezeichnet wird. Wir schreiben 2115 auf der Erde, als wir ihm das erste Mal begegnen, in einer Zeit, in der die Wälder längst aufgehört haben, zu existieren und das Summen der Emanation allgegenwärtig geworden ist. In einer Agglomeration am Rande zum Chaos lebt und arbeitet er, den Vorgaben des Unternehmens in den Triplet-Towers unterworfen, ohne rechte Inspiration, etwas aus sich zu machen. Widerstand gegen die Totalität des Daseins ist ihm fremd.

Seine einzige Leidenschaft besteht darin, Fragmente der Gegenwart zu notieren, mit Hilfe der längst überkommenen Kunst der Handschrift auf Papier. Das Notizheft hält er vor den Augen anderer verborgen. Er ist einsamer Chronist des Untergangs des Menschen auf dem Planeten Erde. Das allein bringt ihm psychische Entlastung, dieses vom Schreiben begleiteten Selbstgespräch über den unausweichlichen Untergang.

Von seinem Arbeitgeber lässt er sich drängen, seinen Körper an das allumspannende Netzwerk der Emanation anzuschliessen. Die digitale Überwachung ist so umfassend und fast perfekt. Warum auch nicht? Wer wäre er denn, sich den Vorgaben der Verwaltung zu widersetzen? Was hätte er denn zu verbergen, was dem System gefährlich werden könnte? Wer wäre er, nicht der Logik des Systems zu folgen? So lebt er unbemerkt in der Schattenwelt seiner Existenz als Person ohne besondere Eigenschaft. Ein zarter, schüchterner, in sich selbst zurückgezogener Mann, der unbeachtet in die Geschichte der sterbenden Erde eingegangen wäre, hätte sich ihm Allaine nicht eines Morgens offenbart.

Sie verändert sein Leben von Grund auf, aber auch ohne ihn aus seiner Passivität zu vertreiben. Die Veränderung kommt wie ein Albtraum über ihn, ohne dass er die Wahl gehabt hätte, zu widerstehen. Er nimmt sie hin, wie er auch seine bisherige Stagnation und Unterwerfung hingenommen hat. Niemandem und und keinem Verlauf kann er widerstehen. Auch im Aufbegehren ist er passiv, folgt er doch den Anweisungen Allaines. Er ist nicht stark genug, den Entwicklungen seinen Stempel aufzudrücken, sie in seinem Sinne zu verändern. Nur als Chronist kann er dem Lauf der Welt nützlich sein, als Schreiber mit einem Notizbuch. Verfallen ist er Allaine bedingungslos, Raum und Zeit wird er durch sie lernen, zu überwinden. So folgt er dem Ruf einer mehr als fragwürdigen Erscheinung: In die Welt hinter den Spiegeln, auf ein Narrenschiff, in die DiaPause der Raumfahrt, in eine andere Zeit weit vor seinem Leben. Er ist ein Getriebener am Höhepunkt des Anthropozän, passiv, ohne rechtes Bewusstsein seinem eigenen Tod entgegen treibend. Wie im Traum erlebt er die Ereignisse um ihn herum, oder besser gesagt: lässt er sie mit sich geschehen, ohne sich ihnen entziehen zu können. Dazu hat er die Kraft nicht, dazu ist er nicht geschaffen worden, auf diese Idee käme er gar nicht. Er vertraut auf Allaine, wird ihr Opfer, ist ihr Sprachrohr mit versagender Stimme. Sie beschützt ihn mit ihrem Mantel, eine archaische Madonna, die seine Geworfenheit in Zeit und Raum mit Absolutheit bestimmt. Unterwerfung mag das rechte Wort sein: sein Wissen um den baldigen Untergang ist das Einzige, was ihn erfüllt.

Von entscheidender Bedeutung ist für ihn auch die Begegnung mit Lore Olamino. Tritt sie auf den Plan, schweigt Allaine in ihm. Ihre Mission ist erfüllt, sie hat ihn an die Gestalterin der Zukunft übergeben. Auch Lore erfüllt den Getriebenen mit ihrer Macht. In ihrer Gegenwart vermag er sich an die Geschehnisse seines Lebens auf der Erde zu erinnern. Zeuge wurde er von den Ereignissen, als sich die Zivilisation auf Erden auflöste und die Menschen wieder einer unbarmherzigen Natur unterworfen wurden wie zu Anbeginn der Hominiden. Denn das Universum duldet sie nicht mehr, die Zerstörer! Es fragt nicht mehr, was der Mensch will, es stürmt voran mit der Kraft von Äonen ins Post-Anthropozän. Vom Bruch mit dem Status Quo weiss er zu erzählen, darüber legt er Zeugnis ab. Er wird Teile der Geschichte von Earthseed enthüllen, Unangemessenes, Empörendes, etwas, was Revolutionen auszulösen vermag. Er wird letztendlich Lore mit ihrer eigenen, längst vergangenen Geschichte konfrontieren. Das ist seine Aufgabe in diesem Roman.

Mit Lore und Tyen Nomasky wird er Teil eines Dreigestirns am Himmel von Alpha Centauri. Zu Dritt gehen sie auch auf die Reise an den Rand des Sternensystems: Odo, ein entkräfteter Zeitzeuge, neben ihm Tyen Nomasky, einer der in Ruhe seinen Weg zu gehen versteht und Lore, die zur Suchenden nach einer Zivilisation wird, die sie im Grunde verachtet. Sie bewegen sich zum Rand von Alpha Centauri, in die Zone, die alle verschlingt, welche ihr zu nahe kommen. Die Geschichten lösen sich auf, weil es keinen Anfang und kein Ende mehr gibt. Nur Lore kehrt zurück.

Odo ist die grosse Klammer der Handlung, ihm folgt man, allein schon um zu verstehen, warum es ihn im Fortgang der Handlung überhaupt gibt. Er ist ein Niemand. Wozu ist er da, warum tut er die Dinge, die der Leser beobachten darf, was ist das Ziel seiner kaum merkbaren Handlungen? Ein wenig erinnert er uns an uns selbst: Wie wir die Gegenwart über uns ergehen lassen, ohne Rückgrat und Perspektive, nur den schalen Freuden und dem ohnmächtigen Leid unserer Zeit verhaftet. Denn dieses Leben kann mit uns tun, was es will. Zu Ohnmächtigen haben wir uns gemacht, Ohnmächtige werden wir bleiben, bis uns die Gezeiten hinweg spülen in die gewaltige Expansion des Universum, auf der die Erde kein Gewicht mehr hat. Odo ist das Symbol für die Passivität des Menschen im Anthropozän.

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