Verarbeitungstexte über Trauma, Trauer und die Entdeckung vom Eigenen.

Didi

Warum hast du uns verlassen?

Ich fühle die letzte Umarmung in meinem Körper. Die Lebendigkeit deines Körpers an meinem. Da war noch ein letzter Rest von Leben in dir.

Ein Aufschrei.
Ein stummes Schreien nach Halt.
Eine Trauer.

Schmerzende Lebendigkeit.

Da warst du noch nicht tot.

Aber du konntest dein Inneres nicht artikulieren. Du konntest deinem Schmerz und deiner Verzweiflung keine Stimme geben. Du konntest nicht um Hilfe bitten.

Ich wusste nichts von deinem Schmerz.

Das war unser Abschied.
Eine letzte, lange Umarmung.
Schwere und Nähe.

Die Umarmung ist in meinem Körper gespeichert. Sie ist fühlbar und bringt Tränen der Erinnerung hervor. Erinnerung an Beziehung und immer mehr verblassender Nähe.

Du warst meine Schwester.
Du warst meine beste Freundin,
damals, für lange Zeit.

Ich habe dich geliebt.
Ich wollte dir nahe sein.
Ich teilte mein Innerstes mit dir.
Legte alles offen.
Alle Heilung. Alle Veränderung.

Aber du behieltest dein Inneres verschlossen. Eingeschlossen und unsichtbar. Unfühlbar für dich und für die um dich herum. Du konntest die Tür nicht aufmachen zu deinem Inneren. Zu deinem Schmerz.

Ich wollte dir helfen.
Aber du liessest es nicht zu.

Zwei Tage vor deinem Tod warst du schon tot. Du warst da, ich sah dich ein letztes Mal. Aber du warst leer, nur noch eine menschliche Hülle.

Ohne Lebendigkeit.
Ohne Gefühle.
Ohne Hoffnung.
Ohne Liebe.

Ich brachte kein Wort heraus. Konnte nichts sagen. Da war eine dicke Mauer der Unlebendigkeit und Abgestelltheit um dich herum. Du warst nicht mehr erreichbar. Innerlich schon im Grab.

Ich wusste nicht, was kommen würde.

Am nächsten Tag war mein Geburtstag.

Ich feierte ihn unwissend dessen, was am folgenden Tag geschehen würde. Ich hätte bei dir sein sollen. In deiner Nähe. Dich halten und von der schrecklichen Tat abhalten. Dich schützen und retten. Dir Heilung verschaffen.

Aber ich konnte es nicht.

Niemand wusste, was du geplant hattest, minutiös, bis ins letzte, tödliche Detail. Du stelltest sicher, dass niemand dich retten konnte. Du hast deine Nächsten an diesem Tag von dir ferngehalten. Du hast sie angelogen, damit sie deinen Entschluss nicht zunichte machen konnten.

Du gingst in die Waschküche.
Du schlossest die Tür von innen.
Du nahmst Tabletten.

Du spritztest dir drei verschiedene Medikamente. Ich kann mich nicht an alle Namen erinnern.

Du hast dich dreifach umgebracht.

Wie einsam musst du gewesen sein, als du deinen letzten Gang machtest die Treppen hinunter in den Keller. Wie konntest du noch gehen, im Wissen, dass du nie wieder das Tageslicht sehen würdest? Was hast du gefühlt, als du mit zitternden Händen dir selbst einen Zugang legtest?

Einen Zugang zum Todesgift?

Was hast du gefühlt, als du alles getan hattest und da auf dem kalten Boden lagst und auf den Tod gewartet hast? Als du die Müdigkeit kommen spürtest? Und wusstest, dass es kein Zurück gibt? Hast du die Endgültigkeit gespürt?

Du lagst da, tot.

Und ich wusste es nicht.
Mein Leben ging weiter.
Während du da lagst
und uns verlassen hattest.
Den ganzen Tag.
Die ganze Nacht.
Ich habe nichts gewusst.
Ich habe nichts gespürt.

Ich habe nicht gespürt,
dass du tot bist.

Der Schock am nächsten Morgen, früh, aus dem Schlaf geweckt. Der tieftraurige Blick meines Mannes, das Telefon in der Hand. Die unfassbare Trauer in der Stimme meiner Mutter. Der Schock, der wie eine Kugel in meinen Körper hineinfährt und dort stecken bleibt.

“Sie ist tot. Sie hat sich das Leben genommen.”

“Wo ist sie? Ich will zu ihr!”

Das war mein einziger Wunsch.
Aber er wurde mir verwehrt.

Ich wollte nur eins: Dich sehen.
In deiner Nähe sein.
Aber ich konnte nicht.
Ich konnte nicht zu dir.
Nie mehr.

Du warst weggeschlossen, in einem unzugänglichen Raum. Und dann wurde dein Körper verbrannt, ohne, dass ich es wollte.

Ich hatte nicht die Kraft, für mein Bedürfnis zu kämpfen.

Alles, was übrig blieb,
war ein Gefäss voller Asche.
Ein schweres Gefäss.
So schwer wie du.
Aber es hatte nicht deine Form.
Du wurdest unkenntlich.

Ich erkannte dich nicht,
obwohl ich ins offene Grab reichte
und ein letztes Mal mit meiner Hand
deine Überreste berührte.

Ich fühlte nichts von dir.

Jetzt gibt es da ein Kreuz
mit deinem Namen.
Mit deinem Geburtsdatum
und deinem Todestag.
Du wurdest einundvierzig Jahre alt.

Ich besuche dich.
Ich zünde im dunkeln eine Laterne an,
mit einer grossen, weissen Kerze,
die in der kalten Winternacht Wärme gibt.

Ich sitze bei dir
und wärme meine Hände
über der Kerze.
Tränen fallen auf das Grab.
Ich friere.

Ich bin dir nicht nahe.
Denn du bist nicht mehr da.

Du bist nicht mehr.

#Tod