Verarbeitungstexte über Trauma, Trauer und die Entdeckung vom Eigenen.

Die zwei Anteile

Es sind zwei Anteile in mir.

Di Chlii.

Sie ist noch ganz klein.
Sie trägt allen Schmerz.
Ganz allein.

Aber jetzt, wo der Schmerz
benannt werden kann
und gesehen wird,
jetzt, wo ein Zugang
zur verborgenen Höhle
freigeschaufelt wurde
und die Tür
aufgeschlossen werden kann,
bricht ihre Kraft zusammen.

Sie kann nicht mehr.
Sie möchte endlich, endlich
in den Armen des Vaters zusammenbrechen.
Und allen Schmerz
herauslassen.

Weinen und trauern.
Und getröstet werden.

Sagen, dass es weh getan hat,
so alleingelassen
und einsam zu sein.
Sagen, dass es schlimm war
und nicht normal.
Sagen, wie sehr die Nähe gefehlt hat.
Wie sehr eine Umarmung gefehlt hat.

Und Geborgenheit.

Sagen, dass sie nicht gesehen wurde
vom Vater.
Dass er nie für sie da war.
Sich nicht interessierte.
Sie nicht ernst nahm.

Nur Witze machte.
Nie nachfragte.
Keine Verantwortung übernahm.

Dass er sie nie berührte.
Nie zärtlich war.
Sie nie in den Arm nahm.
Oder auf den Schoss.
Oder sie über den Kopf streichelte.

Dass er kein Vater war.
Dass der Vater fehlte.

Di Chlii ist ganz nahe am Trauern.
Aber wenn die Tränen kommen,
ist sofort
der andere Anteil zur Stelle:

Der Schutz.

Er versucht mit aller Kraft
das Trauern zu verhindern.
Denn weinen ist gefährlich.
Der Strom der Tränen
könnte alles wegschwemmen.

Deshalb hält der Schutzanteil
die Staumauer aufrecht.
Hält sie unter grosser Anstrengung aufrecht.
Obwohl sie schon Risse hat.
Und nicht mehr lange standhalten wird.

Aber das kümmert den Schutz nicht.
Er hat nur ein Ziel:
Das Überleben sichern.
Das kommt vor allem anderen.

Überleben ist wichtiger
als sich gut fühlen.

Der Schutzanteil
hat eine wichtige Aufgabe erfüllt:
Er hat den Schmerz fest verschlossen.

Damit er erträglich ist.
Damit ich überlebe.

Er hat eine dicke Mauer
darum herum aufgebaut.

Die Mauer heisst:

“Da war ja nichts!”
“Es war doch nicht so schlimm!”
“Du wurdest ja nicht geschlagen!”
“Andere hatten eine
wirklich schwierige Kindheit!”

“Dein Wunsch nach Nähe ist lächerlich.”
“Dein Bedürfnis ist nicht wichtig.”
Du bist nicht wichtig.”

Ich rede freundlich mit diesem Anteil.

Damit die Mauer ganz langsam
abgebaut werden kann.

Und dann kann der Strom fliessen.

Die Tränen.

Dann kann ich trauern.

Und finde Ruhe.

Endlich.

#Therapie