Verarbeitungstexte über Trauma, Trauer und die Entdeckung vom Eigenen.

Kindheitsvater

Wo warst du, Vater?

Wusstest du,
wie sehr ich dich brauchte?
Wie sehr ich dich liebte?

Wusstest du,
dass ich dir nahe sein wollte?
Als kleines Mädchen?
Und die ganze, lange Kindheit hindurch?

Hast du gemerkt,
dass ich deine Nähe gesucht habe?
Wieder und wieder?
Unzählige, schmerzhafte Male?

Jahrelang!

Bis ich qualvoll davon überzeugt war,
dass du nicht existierst.
Dass du nur eine Hülle bist,
angeschrieben mit “Vater”.
Dass da nichts ist
und auch nichts sein wird.
Schwarze Leere
anstelle von warmer Lebendigkeit.

Dass ich mich geirrt hatte.

Wusstest du,
wie lange es dauerte,
bis ich die Hoffnung aufgab?
Und hoffnungslos wurde?

Depressiv.

Das ist ein anderes Wort für hoffnungslos.

Wusstest du,
dass ich deine Arme
um mich spüren wollte?
Wusstest du, dass ich mich
nach Geborgenheit sehnte?
Nach Schutz?
Nach Sicherheit?
Nach Begleitung?

Wusstest du,
dass ich Trost gebraucht hätte,
wenn ich weinte?
Und keine Witze?

Wusstest du,
dass ich hinter verschlossener Tür
auf dich wartete?
Aber du kamst nie zu mir.

Ich blieb allein.
Immer und immer wieder.

Wusstest du,
dass ich unzählige Male
voller Freude in deine Arme rannte?
Wild und kindlich
und ohne zu überlegen,
was passieren wird?
Und dass du mich von dir fern hieltest
und abwehrtest,
damit ich dir nicht zu nahe komme?

Damit ich dich nicht berühre.
Damit mein Körper nicht deinen berührt.
Weil Berührung gefährlich ist.
Weil du dir nicht trautest.
Weil du Angst hattest,
zum Täter zu werden.
Weil du gelernt hattest,
dass Nähe gefährlich ist.

Auch ich habe das gelernt, ganz früh.
Von dir.
Vom Vater, der keiner war.

Aber jetzt habe ich einen anderen Vater.
Einen, der da ist.
Einen, der mich liebevoll anschaut.
Einen, von dem ich lerne,
dass Nähe nicht gefährlich ist.
Sondern schön und wunderbar.

Einen, der mir sagt,
dass mein Verlangen nach Nähe
gut ist.

Richtig, nicht falsch.

Jetzt darf ich endlich einen Vater lieben.

Jetzt liebe ich ihn.

#Vater