Gedanken zur digitalen Selbstbestimmung

Digitaler Minimalismus als Geschäftsmodell – Wo weniger mehr wird

Digitaler Minimalismus, © Frank-Thorsten Moll, 2022

Im Kontext meiner Auseinandersetzung mit digitalen Themen stolpere ich immer wieder über Apologeten des „digitalen Minimalismus“ bzw. „digital Detox“. Ich muss gestehen, dass derlei Artikel durchaus anziehend auf mich wirken. Gleichzeitig hinterlassen sie immer einen leicht fahlen Nachgeschmack – etwas stimmt für mich nicht mit den Versprechungen und Analysen dieser Zunft. Ist es der auf Elendspropaganda basierende Grundton, der immer vom fehlgeleiteten hier und jetzt ausgeht, um das „richtige Leben“ in der Zukunft zu skizzieren? Oder einfach nur der Technikbegriff des radikalen Calvinismus, der alles technisch Neue mit Ablenkung aka dem Teufel gleichsetzt? Im Grunde könnte man sich ja schon darüber wundern, warum die meisten Autor:innen ihre Weisheiten über digitalen Verzicht auf allen Kanälen kundtun.

Das Heilsversprechen der digitalen Minimalist:innen entlehnt tatsächlich viele Argumentationsmuster aus klassischen Glaubenssystemen, die das Heil eines jeden Individuums auf die Einsicht der Falschheit ihres jeweiligen Lebenswandels und die anschließende Unterwerfung unter ein Regime des Verzichts aufbauen. Nur einzelne Vokabeln werden anders gesetzt: Heute sagt man nicht Buße oder Sühne, sondern Entgiftung, Diät oder Entschlackung – meint aber immer dasselbe. Eine signifikante und vor allem sichtbare Abkehr von alten Mustern und ein damit einhergehender Kult der Identifizierbarkeit von Gleichgesinnten. So schwadroniert Cal Newport, in seinem Buch „Digital Minimalism – Choosing a Focused Life in a noisy World“, dass sobald man jemanden mit einem alten Klapphandy auf der Straße sehe, höchstwahrscheinlich einen Gleichgesinnten digitalen Minimalisten sehe, der sein Credo internalisiert und sein Handy “downgegraded” bzw. sein Smartphone wortwörtlich dümmer gemacht habe. Was ich denke, wenn ich jemanden mit einem Klapphandy sehe, ist etwas ganz anderes. Ich denke an eine wirtschaftlich abgehängte Person. Des einen “Weniger ist mehr” ist des anderen “ich kann mir nicht mehr leisten”.

Betrachtet man das Phänomen der japanischen Aufräum- und Entrümpelungskönigin Marie Kondo so gibt es Parallelen zu den digitalen Minimalist:innen. Wer Verzicht predigt und den Verzicht zu einem Geschäftsmodell macht, tauscht im Grunde nur viele Produkte gegen wenige Produkte ein. Bei Kondo heißt dies – kauft neue Kissen, neue Möbel, Kisten und noch mehr Kisten und zelebriert Wegwerforgien mit quasi animistischen Zeremonien. Kurz gesagt: Sie feiert den Potlach mit Homedepot und IKEA und macht damit nichts besser. Letztlich schafft sie also nur Platz für neuen Kram. Und die digitalen Minimalisten? Was verkaufen Sie? Ihre Produkte sind in erster Instanz natürlich Bücher, PDFs, Newsletter, Podcasts und ein paar gute Argumente gegen Facebook, Instagram und Co., die wir mit Geld und unserer Aufmerksamkeit bezahlen. Willkommen in der Aufmerksamkeitsökonomie des Silicon Valley Zeitalters!

Letztlich – so die Beantwortung meiner Ausgangsfrage nach der Herkunft des komischen Gefühls – muss man sich diese Weisheiten der digitalen Minimalisten einfach leisten können, denn ihr Regime des Verzichts erwartet wie gerade herausgearbeitet vor allem eines: viel Zeit.

Zeit, die ich nicht bereit bin, zu investieren. Optimiere nicht dich selbst, sondern deine Abwehr digitaler Heilsversprechen.

Frank-Thorsten Moll, 2024

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